Das gruene Zelt
seine Experimente die Aggressivität von Alkoholikern nicht bestätigten, lachte der Professor nur.
»Aber Dmitri Stepanowitsch, Sie vergessen die höhere Nerventätigkeit! Der Mensch ist immerhin ein hochorganisiertes Geschöpf, kein Kaninchen! Bedenken Sie außerdem, dass Kaninchen Vegetarier sind, der Mensch dagegen eher ein Raubtier. Mit seiner Ernährungsweise steht der Mensch den Bären näher, die Allesfresser sind! Sehen Sie, keine einzige Art ist in dieser Hinsicht – ich rede von der Ernährung – mit dem Homo sapiens zu vergleichen. Die Nordvölker sind Fleischfresser, während wir in Indien zum Beispiel große Populationen mit ausschließlich vegetarischer Ernährungsweise finden. Und keine von beiden Populationen, soweit man das ohne wissenschaftlich fundierte Experimente sagen kann, verfügt über ein hohes Aggressionspotential.«
Der Professor erfreute sich an seinen eigenen Gedanken und rieb die sauberen, rauhen Hände aneinander wie ein Arzt, bevor er einen Patienten untersucht.
»Amüsant, amüsant! Ich denke, man muss bei der Biochemie ansetzen. Der Mensch ist, was er isst 12) . Und trinkt!« Er lachte unvermittelt und entblößte seine durchweg aus Metall gefertigten Zähne, die ihm in Workuta ein Stomatologe aus Wien eingesetzt hatte. Dulin verstand oder ahnte, was der Satz bedeutete – er hatte in der Schule Deutsch gelernt.
12) im Original deutsch. Anm. d. Ü.
Weinberg kannte sich einfach mit allem aus, egal, was man antippte: ob Anthropologie, Latein oder Genetik. Aber seine Zähne in Ordnung bringen zu lassen, dazu hatte er keine Zeit. Er musste vieles nachholen, er beeilte sich zu lesen, zu denken und seine wunderlichen und höchst unzeitgemäßen Gedanken niederzuschreiben, die ihm in den nördlichen Breiten in den Sinn gekommen waren.
Er erzählte allen sehr vieles, auch Dulin. Aber einiges hielt er Außenstehenden gegenüber zurück.
»Ein kindliches Land!«, sagte er zu seiner Frau, die er im Lagerkrankenhaus kennengelernt hatte. »Ein kindliches Land! Die Kultur blockiert die animalischen Reaktionen bei Erwachsenen, nicht aber bei Kindern. Doch ohne Kultur fehlt die Blockierung, da herrschen Vaterkult, Gehorsam und zugleich unkontrollierbare kindliche Aggression.«
Vera Samuilowna winkte geringschätzig ab – sie war die Einzige, die sich das erlauben konnte.
»Das ist doch Unsinn, Edwin! Und die Deutschen? Das kultivierteste Land Europas, nicht? Warum hat die Kultur ihr primitives Verhalten nicht blockiert?«
Vera Samuilowna attackierte ihren Mann mit jugendlichem Eifer, und Edwin Jakowlewitsch zupfte sich wie gewohnt an der Nase, als beherberge eben dieses Organ seinen unvergleichlichen Intellekt.
»Da hat ein anderer Mechanismus gewirkt, Vera. Das ist klar. Selbstverständlich 13) . Das lässt sich begründen. Der jeweilige Grad der Bewusstheit, darüber muss man nachdenken!«
13) im Original deutsch. Anm. d. Ü.
Dann schwieg er lange, um eine theoretische Begründung zu finden.
Kinder hatten sie keine. Im Lager hatten sie einen Sohn bekommen, ihn aber nicht am Leben erhalten können. Nun richteten sie ihre ganze Kraft, ihr ganzes zufällig gerettetes Talent auf ihren Beruf. Vera Samuilowna war besessen von ihrer Endokrinologie, sie arbeitete in einem Laboratorium, das synthetische Hormone entwickelte, in denen sie beinahe so etwas wie ein Mittel zur Unsterblichkeit des Menschen sah. Edwin Jakowlewitsch missbilligte das. Die Unsterblichkeit reizte ihn überhaupt nicht. Hier kollidierten ihre wissenschaftlichen Interessen – die Gerontologie ist kategorisch gegen eine Begegnung mit der Unsterblichkeit. Das war Weinbergs Standpunkt. Aber Vera glaubte an die Hormone.
Das Ehepaar hatte genug Stoff für Gespräche am späten Abend. Nach dem Verlust von allem, was vor dem Krieg ihr Leben ausgemacht hatte – Konservatorien, Bibliotheken, Wissenschaft und Literatur –, nach den Lagerbaracken, dem Lagerkrankenhaus, in dem sie alles ohne jedwede Mittel behandelt hatten, nach all dem jetzt in nächtlicher Stille in der eigenen, mit Büchern und Schallplatten vollgestopften winzigen Wohnung zu sitzen, im Warmen, satt und zu zweit, das empfanden sie als ihr großes Glück.
Dulin beschäftigte sich weiter mit dem Alkoholismus, allerdings nicht mehr nur theoretisch, sondern auch praktisch. Seine Abteilung arbeitete therapeutisch, erzielte allerdings keine nennenswerten Erfolge. Das Gehalt war gut: 170 Rubel plus Zuschläge.
Drei Jahre waren vergangen, und wieder hatte er
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