Das gruene Zelt
wusste genau, auf wen der Laborleiter anspielte. Auf Weinberg. Dulin war ihm zufällig nähergekommen, durch einen Brand in Weinbergs Labor. Vor zwei Jahren – Dulin saß ganz allein auf der Etage und rechnete seine Zahlen durch – war dort ein Kabel durchgeschmort. Er hatte das Feuer gerochen, die Feuerwehr gerufen und noch vor deren Eintreffen die Sicherungen ausgeschaltet und alles selbst gelöscht. Die Feuerwehrleute ließ er nicht mehr ins Labor, denn er wusste, dass sie dort nur Unheil anrichten und womöglich etwas stehlen würden. Er sprach energisch mit dem Feuerwehrhauptmann, ließ ihn alles inspizieren und unterschrieb das Protokoll. Weinberg wusste das zu schätzen. Seitdem besuchte Dulin ihn ab und zu.
Weinberg, ja, der war ein richtiger Professor, glänzend gebildet. Und ein Sonderling: Er redete gern über die Wissenschaft. Man brauchte ihm nur eine Frage zu stellen, schon hielt er ganze Vorträge. Dulin in seiner bescheidenen Position und seiner intellektuellen Unschuld hätte vorher nie auf einen näheren Umgang mit dem berühmten Mann hoffen können. Doch durch seinen Einsatz bei dem Brand hatte er sich das Recht erworben, abends »auf einen Tee« bei Weinberg vorbeizuschauen.
Von ihm hörte Dulin etwas über Dinge, die nicht in den sowjetischen Lehrbüchern standen: über Doktor Freud, über Archetypen, über Massenpsychologie. Weinberg selbst befasste sich mit Gerontologie, mit irgendwelchen Alterspsychosen, aber er wusste auch über alles andere Bescheid und hatte zu allem seine eigene hochinteressante Theorie. Auch zum Alkoholismus.
Weinberg galt vielen als verdächtig; er stammte aus Deutschland und war noch vor dem Krieg vor den Nazis in die UdSSR geflohen. In Russland war er nach einem Monat verhaftet und anschließend fast zwanzig Jahre in Lagern vor den Nazis beschützt worden, und nach Stalins Tod wurde er rehabilitiert – weil er, wie sich herausstellte, irrtümlich verhaftet worden war. Nach seiner Freilassung nahm er rasch den ihm gebührenden Platz ein – nicht auf der Karriereleiter, aber als Wissenschaftler. Nach so vielen Jahren im Lager! Man sollte meinen, dass er dort, als Arzt in einem Straflager, wohl kaum hatte wissenschaftlich arbeiten können, aber er war nicht nur auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit, sondern ihr sogar ein wenig voraus: Er hatte gleich zwei Monographien verfasst und bekam ohne Verteidigung den zweiten Doktorgrad verliehen. Aus dem ganzen Land kamen Psychiater, um ihn zu konsultieren. Eine unangefochtene Autorität. Allerdings nicht für alle. Es gab auch genug Neider. Nicht allen gefiel es, dass dieser Fremdling – nicht genug, dass er Jude war, er war auch noch Deutscher, dass dieser Mann ungehindert seine unglaublichen Lehren verbreiten konnte und dabei auch noch ein europäisches Selbstbewusstsein an den Tag legte, das hierzulande eher verpönt war.
»Dmitri Stepanowitsch!«, wandte er sich an Dulin – er sprach Russisch mit starkem deutschem Akzent, aber grammatikalisch fehlerfrei –, »noch nie hat jemand das soziale Wesen des Alkoholismus und die Besonderheiten des Sozialverhaltens von Alkoholikern erforscht. Hier bietet sich ein ganzes Land für eine Feldforschung geradezu an. Doch wo sind die statistischen Erhebungen zu den Wechselwirkungen zwischen Alkoholkonsum und aggressivem Verhalten? Es gibt sie nicht. Wäre ich jünger, würde ich mich unbedingt mit diesem Thema beschäftigen. Untersuchen Sie es, das bietet hochinteressante Perspektiven! Das Somatische ist weniger interessant. Hier hat es Sinn, auf genetischer Ebene zu forschen. Aber Ihre Kaninchen sind ein ungeeignetes Objekt. Das ist nicht die Drosophila! Andererseits – Alkoholdehydrogenase ist ein simples Enzym, bei allen gleich. Nein, nein, ich an Ihrer Stelle würde mich mit der alkoholbedingten Aggression beschäftigen.«
Doch Dulin hatte keinerlei alkoholbedingte Aggression festgestellt. Die betrunkenen Kaninchen zitterten erst heftig, dann schliefen sie ein. Ihr Appetit nahm ab, genau wie ihr Gewicht, aber sie blieben friedliche Geschöpfe: Sie bissen nicht, fielen keine Menschen an. Kurz – keinerlei Protesthandlungen. Mehr noch, der Leitrammler, der Vater des alkoholkranken Harems, wurde entgegen den Behauptungen des Professors nicht nur nicht aggressiv, sondern büßte obendrein auch seine sprichwörtliche Kaninchenpotenz ein. Alle drei Monate wurde einer seiner herangewachsenen Söhne zum neuen Rammler bestimmt.
Als Dulin wagte, dem Professor zu sagen, dass
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