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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Glück, diesmal ohne Ninas Zutun. Eine Kollegin ging in Rente, damit wurde die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters frei, und der aussichtsreichste Kandidat dafür, der Arzt Rusajew, der seine Habilarbeit bereits geschrieben hatte, kündigte ganz überraschend – er hatte die verlockende Stelle eines Lehrstuhlleiters am medizinischen Institut in Kasan angenommen.
    Beide Stellen wurden ausgeschrieben. Dulin wäre es nie in den Sinn gekommen, sich zu bewerben, doch der Abteilungsleiter sagte: Reichen Sie Ihre Unterlagen ein, Dmitri Stepanowitsch. Und im Herbst 1972 wurde Dulin wissenschaftlicher Mitarbeiter! Das war eine umwerfende Karriere – Dulin brauchte den ganzen Winter, um sich daran zu gewöhnen. Wenn er sich morgens im Bad rasierte, mit dem Rasierer den Schaum von den Wangen in Richtung Kinn herunterkratzte, betrachtete er sich im Spiegel und sagte im Stillen: Dmitri Stepanowitsch Dulin, wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er hatte gedacht, er würde sich zehn, fünfzehn Jahre lang zu dieser Position hocharbeiten müssen, und nun – bitte sehr!
    Er empfand Stolz und zugleich Unsicherheit.
    In der Abteilung lief alles gut. Er hatte jetzt ein neues Thema, alkoholbedingte Paranoia, und betreute zwei Krankenzimmer mit Patienten, die er studierte und behandelte. Von Eifersuchts- oder Verfolgungswahn besessene, von Halluzinationen geplagte Menschen, die ihre Würde eingebüßt hatten, Tobsüchtige oder mit Neuroleptika Gedämpfte – sie unterschieden sich sehr von den sanften weichen Kaninchen mit den warmen Ohren. Aggressionspotential hatten sie mehr als genug. Manche wurden im Bett fixiert, andere mit Präparaten gebändigt, aber hin und wieder kam es vor, dass ein tobsüchtiger Patient eine Fensterscheibe zerschlug, um seiner Krankheit zu entfliehen, direkt zum lieben Gott. Dabei gab es auf der ganzen Station nur zwei unvergitterte Fenster, eines im Zimmer des Stationsleiters und ein kleines im Behandlungsraum. Aus dem war im Frühjahr ein solcher Patient gesprungen. Zum Glück war es nicht hoch – erster Stock. Aber er brach sich den Arm. Das Ganze war für alle höchst unangenehm – der Patient war ein berühmter, vom ganzen Volk geliebter Schauspieler. Auch sein Delirium war zutiefst volkstümlich: Er wurde von kleinen Männchen gejagt, die er ständig von sich abpflückte oder angewidert und ängstlich abschüttelte.
    Die Männchen vertrieb Dulin mit Hilfe von Amytal und Haloperidol.
    Dann ging es dem Schauspieler wieder besser, und seine schöne Frau kam ihn abholen, auch eine Schauspielerin. Sie schenkte den Krankenschwestern sechs Schachteln Schokoladenpralinen und dem Leiter der Station ein Porträt des Patienten mit dessen schwungvollem Autogramm – das hing nun in seinem Büro. Der Nichttrinker Dulin bekam eine Flasche Kognak. Dulin war sehr froh – natürlich nicht über den Kognak, sondern darüber, dass es keinen Skandal gegeben hatte, der Schauspieler war ja schließlich heil und ganz hergekommen, und nun trug er einen Gips. Vernachlässigung der Aufsichtspflicht.
    Dulin mochte seine Paranoiker nicht, ja, er verachtete sie. Er hielt sie alle für verkommen, und den Alkoholismus betrachtete er tief im Innern nicht als wirkliche Krankheit, sondern als gewöhnliche menschliche Verwahrlosung. Seine Frau Nina besuchte von morgens bis in die Nacht Patienten, horchte in ihr Stethoskop, tastete Bäuche ab, schrieb Krankenscheine aus und Rezepte – das war richtige ärztliche Tätigkeit. Das hier aber, so meinte Dulin, war nichts weiter als wissenschaftliche Augenwischerei. Doch insgesamt war er mit seiner Arbeit zufrieden.
    Eines Tages im Hochsommer, mitten in der Urlaubszeit, wurde Dulin zur Direktion gerufen – die Sekretärin Eleonora Viktorowna, eine reife Schönheit mit schwarzer Haarpracht, üppigen unbeweglichen Augenbrauen und ungeheurer Macht innerhalb des Instituts, lächelte säuerlich und sagte:
    »Dmitri Stepanowitsch, man bittet Sie zu einem Konsil, zu Ihrem Fachgebiet, auf der Sonderstation.«
    Dulin wurde nervös. Diese Bitte war faktisch eine Anweisung. Auf der »Sonderstation« lagen die »Politischen«, das wusste jeder, und dort arbeiteten nur »Befugte«, ganz besondere, verschwiegene Personen. Außenstehende zog es auch nicht dorthin. Normalerweise wurde der Abteilungsleiter Karpow hinzugezogen, wenn ein Konsiliararzt gebraucht wurde, doch der war gerade im Urlaub. Auch Kultschenko, ein verdienstvoller wissenschaftlicher Mitarbeiter, war verreist, zu einer Konferenz in

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