Das gruene Zelt
sehnsüchtig auf den Augenblick, da er endlich im Flugzeug sitzen und das Flugzeug sich in die Luft erheben würde. Natürlich hatte er die Grenze nun unwiderruflich überschritten, doch er wollte sich so schnell wie möglich von der Erde lösen. Außerdem musste er dringend auf die Toilette.
Er wusste, dass hinter irgendeinem Fenster Olga, Kostja und die anderen standen, die ihn verabschiedet hatten, winkten und bestimmt darauf warteten, dass er die Hand hob und ihnen zuwinkte, wenn er die Gangway hinaufging, aber er hielt nicht einmal Ausschau nach dem verglasten Gang, in dem sie stehen mochten. Aus dieser Entfernung hätte er sie ohnehin nicht erkennen können. Doch als er ganz oben stand, wandte er sich um und winkte in eine unbestimmte Richtung wie Breshnew auf der Tribüne – der Parteiführergruß.
Das ist er, der filmische Moment im Leben, dachte Ilja lächelnd und beruhigte sich. Sein Platz befand sich in der vorletzten Reihe am Fenster. Es war brechend voll.
Als sich das Flugzeug mühsam von der Erde losriss, sagte sich Ilja im Stillen: Frei! Frei von allem!
Das Flugzeug gewann langsam an Höhe, die Passagiere wurden in die Sitze gepresst, und Ilja hatte das Gefühl, an Gewicht zu verlieren. Als hätte er selbst fliegen können, ohne jeden Motor, getragen allein vom Gefühl grenzenloser Freiheit.
Die Frau, die an der Gangway nervös gekichert hatte, saß ein Stück weiter vorn und begann nun laut zu lachen und zu schluchzen. Eine Stewardess von Basketballergröße kam mit einem Glas Wasser vorbei.
Ja, ja, eine große Frau … das ist gut – eine große Frau … Aber er dachte nicht zu Ende, was ihm durch den Kopf ging.
Die graue Dunkelheit draußen lichtete sich, schließlich brach das Flugzeug zum klaren blauen Himmel durch, unter ihnen lagen dicke weiße Wolken, kompakt wie Reisbrei und plump wie eine Theaterdekoration. Das Flugzeug stieg immer höher und flog zielstrebig gen Westen, ließ die Ruinen des verfluchten Lebens hinter sich, das schlammige Chaos, Angst, Scham und Lüge, und Ilja atmete die künstliche Hochgebirgsluft im Flugzeug ein – die Luft der Freiheit. Vor ihm lag eine aufregende Leere, ein unbeschriebenes Leben, alle Korrekturen waren ausradiert.
Iljas Nachbarin – eine alte Jüdin mit einem Mund voller nagelneuer Goldzähne – zupfte ihn am Ärmel.
»Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mit mir den Platz tauschen?«
Sich seiner Zustimmung sicher, zog sie an ihrem Riemen, um sich abzuschnallen, aber sie zerrte in die falsche Richtung.
»Nein«, antwortete Ilja kurz angebunden.
»Aber warum denn nicht?«, fragte sie beleidigt.
»Ich will nicht«, erwiderte er, ohne den Kopf zu drehen.
»Aber warum denn nicht?« Sie traute ihren Ohren nicht.
Er würdigte sie keiner Antwort. Sie war ein Stück der Vergangenheit, von der er sich abgewandt hatte.
»Aber so kann ich mich überhaupt nicht rühren«, sagte die Frau verwirrt und wandte sich an den Nachbarn am Gang:
»Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mit mir den Platz tauschen?«
»Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie nicht verstanden. Was möchten Sie?«, fragte der Mann mit deutlichem Akzent zurück.
Ilja schaute ihn an. Ein grauhaariger Alter, in der knochigen Hand eine deutsche Zeitung. Interessant. Das war etwas, das Ilja sehr liebte: eine Frage, ein Rätsel, Details, Details … Die ausländische gestreifte Seidenkrawatte, das weiße Hemd aus einem unbekannten gerippten Material, das abgetragene Jackett und besonders die deutsche Zeitung fesselten sofort seinen Blick.
»Ich wollte ja ans Fenster. Aber der Bürger hat mich nicht gelassen, dann will ich wenigstens am Gang sitzen.« Sie zerrte noch immer wütend an ihrem Riemen, aber Ilja half ihr nicht. Er musterte sie mit unfreundlichem Interesse. Was für eine unverschämte Person.
Der Alte stand auf, er war sehr groß und dünn und sah ganz und gar aus wie ein Ausländer. Obwohl – das Jackett …
»Warten Sie, ich helfe Ihnen, sich abzuschnallen.« Der Nachbar befreite die Frau aus ihrer Falle und trat in den Gang. Sofort ließ sie sich auf seinen Sitz fallen.
»Ein kultivierter Mensch, das sieht man gleich«, lobte sie sein Verhalten laut, mit einem Vorwurf gegen Ilja.
»Entschuldigen Sie, lassen Sie mich bitte erst auf Ihren Platz, dann können Sie sich setzen.« Er stand abwartend im Gang, den Kopf gesenkt.
»Ach ja, ach ja.« Sie nickte und hob ihren Hintern.
Ilja lächelte spöttisch, sein Blick traf auf den des Alten – ein kurzer, wortloser
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