Das gruene Zelt
nämlich zur Fakultät für Sonderpädagogik, und besuchte die Vorlesungen zur Hörgeschädigtenpädagogik des berühmten Professors Jakow Petrowitsch Rink, der zu einer ganzen Dynastie von Pädagogen gehörte, die seit fast hundert Jahren an Methoden zur Sprachförderung bei Stummen, Taubstummen und Schwerhörigen arbeitete.
Zur ersten Vorlesung hatte eine Freundin Micha mitgenommen, und nach ein paar Wochen hatte er Feuer gefangen und wollte sich der Sonderpädagogik widmen, ohne jedoch die philologische Fakultät aufzugeben. Mit besonderer Erlaubnis von Professor Rink legte er Prüfungen in einigen Fachdisziplinen ab und wurde so zum »Bigamisten« – Philologie und Sonderpädagogik ließen sich wunderbar miteinander vereinbaren.
Er rannte zwischen den beiden Fakultäten hin und her und neigte immer mehr zur Sonderpädagogik.
Ein gründlicher Psychoanalytiker hätte womöglich die wahren Motive für Michas neue Leidenschaft entdeckt, aber das geschah nicht – der Schatten der stammelnden Minna belastete ihn nicht, sein übliches Schuldgefühl gegenüber allen und jedem peinigte ihn in diesem Fall nicht. Aljona hatte zusammen mit den kleinen Liebeseroberungen der letzten drei Jahre auch dieses noch halb kindliche Trauma hinweggeschwemmt. Wozu sollte er sich auch daran erinnern?
Die geistesschwache Minna, die kaum richtig sprechen konnte, hatte ihre siebenundzwanzig Jahre unauffällig gelebt, ohne jemandem zur Last zu fallen, und war ebenso unauffällig gestorben. Tante Genja betrauerte den Tod ihrer Tochter eher wie den eines Haustiers. Andere Menschen bemerkten gar nicht, dass die schüchterne, vage lächelnde kurzbeinige Person, die niemandem auf der Welt etwas zuleide getan hatte, nicht mehr da war. Und Micha musste an Catulls Gedicht über den Spatzen denken und wie sie ihn beweint hatte, diese, wie hieß sie noch – Lesbia?
Bald nachdem Minnas Liege und der Kinderstuhl, auf den sie abends ihre Kleider gelegt hatte, aus dem Haus waren, fühlte Tante Genja sich frei von ihren drückenden Sorgen und wiederholte von Zeit zu Zeit mit tiefer Befriedigung und einem Hauch von krankhaftem Stolz den wie eine Beschwörungsformel klingenden Satz: Was ich an Leid alles durchgemacht habe, das geht auf keine Kuhhaut!
Mit Micha ging es ihr gut. Seit seinem Einzug – mit zwölf Jahren! – hatte er seine festen Pflichten: er ging einkaufen, hielt sein Zimmer sauber, übernahm das planmäßige Putzen der gemeinschaftlich genutzten Orte der Wohnung wie Bad, Toilette und Küche, und – das war für ihn am unangenehmsten – er erfüllte die kleinen Aufträge, die Tante Genja sich ständig einfallen ließ: Sie schickte ihn dreimal am Tag zur Apotheke oder mit einem halben Kuchen zu ihrer Schwester Fanja oder zu ihrer anderen Schwester Raja, eine Schüssel Sülze abholen.
Seit fast zehn Jahren leistete er seine verwandtschaftlichen Dienste mit unglaublicher Leichtigkeit, freudig und ohne zu murren. Die Tante hatte ihren Pflegesohn liebgewonnen, so gut sie es vermochte, und hegte nicht die Absicht, sich von ihm zu trennen. Doch einem heimlichen Kupplerinstinkt folgend – dem Drang, alle freien Valenzen zu binden, damit sie nicht in die falsche Richtung streben –, stellte sie ihm hin und wieder anständige jüdische Mädchen aus dem großen Verwandtenkreis vor. In dieser Hinsicht war ihr eine schwere Panne unterlaufen: Ihr eigener Sohn Marlen war ihr entwischt und hatte eine Russin geheiratet. Sie konnte sich bis heute nicht damit abfinden, obwohl »diese Lida« sich als »doch ganz anständig« erwiesen hatte …
Anfang Oktober lud Tante Genja ihre entfernte Nichte Ella zum Essen ein. Die schweigsame Ella, rundlich wie eine Flasche und auf Flaschenbeinen, brachte eine große ovale Schachtel Konfekt mit, doch Tante Genja aß aus Angst vor Diabetes prinzipiell keine Schokolade – eines ihrer zahlreichen Vorurteile lautete: Diabetes kommt vom Schokoladenkonsum. Sie legte die Schachtel mit dem trabenden Hirsch ins Büfett und servierte die Bouillon.
Micha saß brav alle drei Gänge ab und würdigte jeden gebührend, die trübselige Ella aber schwang den Löffel ohne kulinarischen Enthusiasmus, schweigend und mit gesenktem Blick. Offenkundig litt auch sie unter diesen erfolglosen, angeblich zufälligen Begegnungen mit verwandten jungen Männern, die allesamt fruchtlose Heiratsvermittlungsversuche waren. Nach dem Essen brachte Micha, von Tante Genja mit einem Heben der Augenbraue stumm dazu aufgefordert, Ella zur Metro.
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