Das gruene Zelt
Kontakt: Amüsant, was für eine unverschämte dumme Kuh. Doch der Alte reagierte nicht darauf.
Sie tauschten die Plätze. Der Alte nickte Ilja zu. Schlug die Zeitung auf. Den Namen konnte Ilja nicht sehen.
Die Frau ließ den Mann nicht in Ruhe.
»Oh, Sie lesen in einer Fremdsprache?«
Er nickte. »Ja.«
Ilja drehte sich zum Fenster. Der Himmel strahlte, aber die Begeisterung war dahin. Er hätte sich gern mit dem ungewöhnlichen Nachbarn unterhalten, aber nun, nach dem aufdringlichen Verhalten der Frau, genierte er sich.
Die Frau ließ nicht locker.
»Oh, und in welcher?«
»Im Moment Deutsch.« Der Alte lächelte, den Blick weiter auf die Zeitung gerichtet.
Nach einer kurzen Pause stellte sie ihm erneut eine Frage – in durchdringendem Flüsterton.
»Sagen Sie, entschuldigen Sie, aber – sind Sie Jude?«
»Ja.« Er lächelte.
»Und wohin gehen Sie – nach Israel oder nach Amerika?«
Nein, diese jüdische Schnepfe, dachte Ilja. Er genoss die Szene regelrecht.
»Ich habe bis 1933 in Deutschland gelebt. Ich kehre in meine Heimat zurück. Ich habe sehr lange in Russland gelebt.«
»Sie sind also Ausländer?«, fragte die Frau begeistert.
Er lächelte.
»Jetzt ja.«
»Das hab ich mir doch gedacht, Sie sehen nicht aus wie einer von uns. Ich fliege nach Wien, und dann nach Amerika. Mein Sohn ist schon dort. Ich wollte erst nicht, aber dann hab ich gedacht – na gut. Schade natürlich, dass ich alles dalassen musste …« Sie wollte weiterreden, der Gesprächspartner gefiel ihr.
Der Deutsche war ein wohlerzogener Mann und beantwortete die Fragen der alten Schnepfe. Ilja schloss sofort: Er ist 1933 emigriert, als Hitler an die Macht kam. War bestimmt Kommunist. In Russland hat er natürlich gesessen. Was für eine Biographie! Wahrscheinlich hat er die westdeutsche Staatsbürgerschaft bekommen. Wäre wirklich interessant, sich mit ihm zu unterhalten.
Ilja drehte sich wieder zum Fenster und überlegte, ob Pierre, der versprochen hatte, nach Wien zu kommen, ihn wohl abholen würde, oder ob er in irgendein Aufnahmelager müsste – ein Wohnheim voller Emigranten.
Nein, nein, bestimmt nicht. Schließlich hatte er Bekannte, sogar Freunde. Ich werde anrufen, vielleicht schicken sie mir Geld, und Pierre wird mir bestimmt auch helfen. Vielleicht einen Abstecher nach Italien … oder nach Frankreich … Da lebte Nicole, eine gute Bekannte. Ach, es gab genug Leute, an die er sich wenden konnte. Und dann würde er vielleicht einen Teil seiner Sammlung verkaufen können. Seine ursprüngliche Hochstimmung kehrte zurück.
Die Bordmahlzeit wurde ausgeteilt – sie schmeckte köstlich. Eine weitere Stunde war vergangen.
Durch die Bullaugen waren Berge zu erkennen – etwa die Alpen?
Er sprach es sogar laut aus: Die Alpen.
Sein Nachbar, der zu dösen schien, warf plötzlich den Kopf hoch und wandte sich an Ilja:
»Rufen Sie bitte die Stewardess. Mir ist schlecht.«
Ilja drückte auf den Rufknopf. Der Alte schloss die Augen. Er war gelblich-weiß und schnappte mit offenem Mund nach Luft.
»Schnell … einen Arzt«, röchelte er.
Krampfhaft, heiser keuchend holte er Luft, dann warf er sich zurück in die Sessellehne und erstarrte mit offenem Mund.
Die Schnepfe sah ihren Nachbarn entsetzt an.
Die Stewardess kam. Sie griff nach der Hand des alten Mannes. Suchte seinen Puls.
Die Frau, die nun im Gang stand, begriff als erste und heulte mit vulgärer lauter Stimme »A-a-ah«.
Da begriff auch Ilja, dass sein Nachbar tot war.
Die Emigration von Edwin Jakowlewitsch Weinberg war zu Ende.
Taubstumme Dämonen
Fast jeder Mensch hat ein besonderes Jahr oder eine Saison, da die Knospen verborgener Potenzen aufplatzen, schicksalhafte Begegnungen stattfinden, Verbindungen sich kreuzen, Richtungen und Ebenen sich ändern, das Leben aus dem Tal heraus auf den Berg klettert. In seinem zweiundzwanzigsten Jahr hatte Micha Aljona kennengelernt und sich so unwiderruflich und endgültig in sie verliebt, dass sein ganzes bisheriges Leben mit netten Mädchen, mit mühelosen, zu nichts verpflichtenden Rendezvous und zielstrebigen Nächten in Wohnheimen zersprang wie Glas und nur nutzlose Scherben von seinen früheren Passionen blieben.
Das zweite, nicht weniger wichtige Ereignis, das ein wenig früher lag und ihn sehr tief berührte, betraf seine beruflichen Interessen. Mit Beginn des vierten Studienjahres verriet Micha seinen Glauben an die russische Literatur zwar nicht gänzlich, ging von nun an jedoch fast täglich fremd,
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