Das gruene Zelt
Chef der Abteilung I, Genosse Korobzow, beide Dokumente zugleich auf den Tisch bekam, rief er Jakow Petrowitsch an und bestellte ihn zu sich. Der Achtundsiebzigährige, korrespondierendes Mitglied der Akademie der pädagogischen Wissenschaften, trabte unverzüglich zum Genossen Korobzow, einem Hauptmann von sechsunddreißig Jahren, und der zog ihm ordentlich die Ohren lang.
Jakow Petrowitsch Rink wirkte zwar jünger, hatte aber aufgrund seines hohen Alters schon manches erlebt, ihm waren schon oft die Ohren langgezogen worden. Er hatte sein ganzes Leben der Arbeit mit Hörgeschädigten gewidmet, ihnen geholfen, und zugleich schützten die Gehörlosen ihn: In den Büros, in denen halb analphabetische Leutnants und halbgebildete Hauptleute über das Schicksal der Wissenschaft entschieden, galt die Arbeit des Professors als kauzig und harmlos, man ließ ihn also in Ruhe. Er war Deutscher, allerdings Russlanddeutscher. Ein Vorfahre war vor hundertfünfzig Jahren an die Russische Akademie der Wissenschaften geholt worden, und seitdem lebte die Familie in Russland. Zum Glück wurde er in den Papieren als Russe geführt, und deshalb hatte man ihn, im Gegensatz zu seinen Vettern, die zu Beginn des Krieges nach Kasachstan verbannt worden waren, nicht verfolgt. Er wusste sehr gut, dass dies ein Geschenk des Schicksals war. Jedes Mal, wenn Jakow Petrowitsch in ein Büro mit Leutnants und Hauptleuten kam, rechnete er mit der Entlarvung. Selbst jetzt noch, zwanzig Jahre nach dem Krieg.
Zu seiner Stellvertreterin und engen Freundin Maria Moissejewna Bris sagte er oft, die Lippen zu einem Strich zusammengepresst und auseinandergezogen, was ein Lächeln bedeutete:
»Sie haben es gut, Maria Moissejewna, Sie, eine ehrliche Jüdin, braucht man nicht zu entlarven, ich dagegen habe mein halbes Leben befürchtet, irrtümlich für einen Juden gehalten zu werden, und nun lebe ich in der Angst, als Deutscher entlarvt zu werden. Obwohl wir doch alle beide lediglich zur russischen Intelligenz gehören.«
»Was holen Sie sich denn da für Leute als Doktoranden?«, fragte Korobzow, ohne ihm einen Platz anzubieten.
Wie ich sie satthabe, wie ich sie satthabe, wie ich sie satthabe …
»Fehlen irgendwelche Papiere, Igor Stepanowitsch? Ein interner Doktorand, Sascha Rubin, ein externer, Michej Melamid, gute Jungen, alle beide unsere Absolventen.«
»Setzen Sie sich doch, Jakow Petrowitsch. Wir müssen hier einiges noch einmal überdenken. Rubin – schön, er hat gute Beurteilungen, ist Komsomolsekretär. Aber wie gut kennen Sie diesen Melamid?«
Er musste nicht lange raten: Melamid passte ihnen nicht. Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Maria Moissejewna hatte recht gehabt mit ihren Befürchtungen: Wir können nicht beide Stellen mit Juden besetzen, das lassen sie nicht durchgehen. Es gab noch einen Anwärter aus Moldawien, doch der war recht schwach. Der würde ihnen passen, war aber durch die Prüfungen gefallen …
»Er hat einen sehr interessanten Artikel veröffentlicht. Arbeitet bereits in der Praxis. Ist äußerst belesen. Zeigt großes Interesse für sein Thema. Er erfüllt alle Voraussetzungen für die wissenschaftliche Arbeit.«
»Hm, hm.« Korobzow machte eine Pause. »Und warum ausgerechnet er? Es gibt doch auch noch andere Bewerber – hier« – er kramte in den Papieren und buchstabierte – »Perepopescu, Nedopopescu, so ähnlich. Ein einfacher Junge aus Moldawien. Sie immer mit Ihren Melamids und Rabinowitschs …«
Wie ich euch alle hasse, wie ich euch hasse, wie ich euch hasse …
»Melamid ist unser Absolvent, hat bereits praktische Erfahrung. Ein begabter und ernsthafter junger Mann!«
»Hm. Jakow Petrowitsch, sagen Sie diesem ernsthaften jungen Mann, dass die Abteilung I ihn nicht bestätigt hat. Wenn er noch Fragen hat, soll er herkommen, dann erkläre ich ihm alles.«
»Sie meinen, Sie lehnen seine Bewerbung ab?«
»Genau. Was schauen Sie so? Wir schützen Ihre Interessen, die Interessen des Instituts und des ganzen Landes! Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, dass Ihr Melamid nicht irgendetwas Übles anstellt? Die persönliche Verantwortung, Jakow Petrowitsch?«
Schert euch alle zum Teufel, schert euch alle zum Teufel, schert euch alle zum Teufel …
»Ich werde es mir überlegen, Igor Stepanowitsch.«
Da gab es im Grunde nichts zu überlegen: Die Finanzierung des Laboratoriums, die Habilarbeit von Maria Moissejewna, die seit 1953 nicht zur Verteidigung zugelassen wurde, die Eröffnung des
Weitere Kostenlose Bücher