Das gruene Zelt
Gehörlosenzentrums, seine Doktoranden, seine Studenten – Jakow Petrowitsch konnte sich nicht erlauben, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.
Im Herbst überschlugen sich die Ereignisse in Michas Leben, glückliche wie unglückliche, so dass sie zu einem einzigen bunten Band verschmolzen. Aljona veränderte sich ihm gegenüber plötzlich, und ihre Beziehung, bislang nervös schwankend zwischen Abkühlung und Erwärmung, wurde ausgeglichen und sehr eng. Micha verstand nicht, was geschehen war, und Aljona hielt es nicht für nötig, ihm mitzuteilen, dass sie mit dem verheirateten Mann, in den sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr verliebt gewesen war, gebrochen, ihn endgültig verlassen hatte und entschlossen war, Micha zu heiraten. Micha war restlos glücklich.
Noch ehe er diese bevorstehende Veränderung in seinem Leben recht verkraftet und über eine Menge praktischer Fragen nachgedacht hatte, die Aljona nicht im Geringsten interessierten, löste sich alles auf überraschende Weise: Tante Genja starb plötzlich und ohne Qualen.
Sie hatte noch lange leben und ausgiebig krank sein wollen, hatte bereits eine ganze Liste von Krankheiten beisammen, aber vergebens: Eines Abends legte sie sich ins Bett und starb im Schlaf, wodurch sie mit einer ihr gar nicht eigenen Großzügigkeit Michas Hauptproblem löste: das Wohnungsproblem.
In der Nacht von Tante Genjas Tod war Micha nicht zu Hause. Er war mit Aljona auf die Datscha einer Freundin von Ilja gefahren. Eine kleine Party im Grünen. Als Micha am nächsten Tag spätabends nach Hause kam, empfing ihn Tante Genja weder mit Vorwürfen noch mit Klagen – sie war kalt und still.
Nun war er der einzige gemeldete Mieter, Herr über ein Vierzehn-Quadratmeterzimmer im Zentrum. Marlen war seit langem bei seiner Frau gemeldet, die Familienstrategie hatte vorgesehen, dass Minna das Zimmer bekommen und Micha eine Arbeitsstelle außerhalb Moskaus antreten und sich am neuen Ort ansiedeln sollte.
Drei Jahre zuvor hätte sich der praktisch denkende Marlen womöglich noch darüber geärgert, dass er das Zimmer verlor, weil er es sich nach Minnas Tod nicht rechtzeitig gesichert hatte, doch inzwischen hatte sich sein Leben gründlich verändert – er war nun ein radikaler Verfechter des Judentums, lernte Hebräisch, las die Tora, war Zionist geworden und bereitete sich auf den langen Kampf um die Repatriierung vor. Ein ernstes Hindernis auf diesem Weg war seine Mutter gewesen. Tante Genja hasste Israel, betrachtete es als die Ursache aller jüdischen Leiden und hatte ihrem Sohn von vornherein erklärt, sie selbst würde ihre Heimat nicht verlassen und ihm die Einwilligung zur Ausreise strikt verweigern.
Der Tod der Mutter brachte Marlen ein Stück näher nach Zion.
Als Micha Marlen fragte, was er mit Tante Genjas Sachen machen solle, zuckte der nur die Achseln.
»Frag die Tanten, sollen sie sich nehmen, was sie wollen, den Rest wirf weg.«
Doch die Tanten hatten sich längst alles genommen, was noch irgendetwas taugte.
Aljona betrat Michas Zimmer nach dem Tod der Tante zum ersten Mal. Sie blieb auf der Schwelle stehen und schaute sich um: ein Kristallkronleuchter mit fehlenden Gehängen, diverse armselige Schätze – angeschlagene Vasen, zwei Bilder in dicken vergoldeten Gipsrahmen, auf dem Fensterbrett ein Topf mit einer Geranie, ein Topf mit einer Aloe und ein Dreiliterglas mit einem japanischen Pilz, der gut war für den Magen. Das Foto einer recht schönen Frau mit einer kunstvollen Locke auf der Stirn und zwei Kindern – einem halbwüchsigen Jungen mit klugen Augen und einem lächelnden dicken Mädchen. Das Mädchen war etwa drei, die dicke Zungenspitze hing ein Stück heraus.
»Tante Genja mit ihren Kindern?«, fragte Aljona.
Micha nickte. Er schämte sich plötzlich für das ärmliche Zuhause, in dem er so viele Jahre gelebt hatte, und das war ihm zugleich peinlich, weil er mit dieser Scham seine arme Tante verriet.
»War das Mädchen krank?« Aljona zeigte auf die kleine Minna.
»Ja, Down-Syndrom. Das habe ich erst beim Studium begriffen. Es hieß immer, sie habe eine Drüsenkrankheit. Sie ist gestorben.«
Aljona nickte. Schwieg eine Weile.
»Was für ein schreckliches und trauriges Zuhause. Genau so hatte ich es mir vorgestellt. Na ja, nicht genau so, aber so in der Art.«
Sie ging zu dem mit bordeauxrotem Plüsch bedeckten Tisch, setzte sich, strich über den staubigen Stoff und sagte klagend:
»Micha, hier kann man nicht leben.«
»Doch, Aljona, das kann
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