Das gruene Zelt
»Gorbanewskaja! Natalja Gorbanewskaja! Das ist es! Genau! Ideal!« Und er rezitierte sogleich energisch, mit sirenenartigem Unterton:
Wir zahlen alles zurück –
steigt Rauch auf vom trockenen Gras.
Wir zahlen alles zurück –
die Mühlsteine sind erstarrt.
Vergessen kein Seufzer, kein Schritt,
kein Blut, kein Schweiß – Stück für Stück,
die schwere blutige Schuld –
wir zahlen alles zurück.
Wenn Feuer das Gras bedeckt,
wenn Feuer die Bäume ansteckt,
auch jene im Laub entdeckt,
Vergeltung kennt kein Versteck …
»Einverstanden! Gegen Gorbanewskaja keine Einwände! Wir müssen sie nur fragen«, stimmte Edik sofort zu.
»Das ist doch Samisdat! Wieso fragen? Wir nehmen ihre drei Gedichte an Brodsky!«
Micha mit seiner Vorliebe für die Klassiker – für die Versdialoge zwischen Puschkin und Wjasemski, den Briefwechsel zwischen Herzen und Turgenjew, Turgenjew und Dostojewski oder Gogol und ausgewählten Freunden – wollte das Thema gleich ausweiten.
»Es wäre schön, auch noch Gedichte von Brodsky an die Gorbanewskaja zu finden oder einen Dialog zwischen ihr und noch jemandem!«
»Puschkin zum Beispiel! Gib das doch in Auftrag!«, empfahl Edik.
Aber Micha blieb unerschütterlich ernst.
»Nein, hör mal her. Weißt du, das ist eine gute Idee, wir nehmen ihre Gedichte an Freunde. Ein poetischer Dialog zwischen Freunden. Zum Beispiel das hier:
Im Irrenhaus die Hände
schlagen gegen Wände,
Stirn an die Wand so weiß
Gesicht in Schnee und Eis …
»Ja, ich erinnere mich. Das ist an Galanskow«, sagte Edik.
»Und noch eins, hör zu:
Wisch von den Wangen deinen Halbschlaf weg,
trotz Schmerz versuch die Augen aufzuklappen,
des Krankenhauses Weiß und auch sein Dreck –
dient deiner Unfreiheit als freies Wappen.
Edik winkte ab.
»Das kenne ich auch. Das ist an Dimka Borissow. Aber woher kennst du ihre Gedichte so gut?«
»Sie hat im Haus meines Schwiegervaters zweimal Gedichte vorgetragen. Ich hab sie gleich behalten. Sie ist ziemlich mürrisch und unfreundlich, aber ihre Gedichte, wie du siehst, die sind sehr zärtlich. Ich kann nicht behaupten, dass sie mir als Person besonders gefällt, aber sie schreibt Gedichte, die ich selbst gern schreiben würde.«
Sie beschlossen, dass Micha zu Natalja Gorbanewskaja fahren und sie um neue Gedichte bitten sollte.
Dann fiel Edik ein hochgescheiter Bekannter von der philosophischen Fakultät der Moskauer Uni ein. Er könnte einen Artikel über die zeitgenössische amerikanische Science-Fiction schreiben.
Der dritte, recht umfangreiche Teil der Zeitschrift hieß schlicht »Nachrichten«. Nachrichten gab es mehr als genug. Viele unterschiedlich denkende Menschen hatten zunächst in stillen Winkeln geflüstert, dann halblaut gesprochen, schließlich gingen sie auf die Straße und protestierten immer mutiger und überlegter. Sie wurden festgenommen, verurteilt, ins Gefängnis geworfen und wieder rausgelassen; das Leben war täglich voller Neuigkeiten, die man voneinander oder aus westlichen Radiosendern erfuhr – je nachdem, wer welche Quellen hatte.
Außer den Menschenrechtlern agierten noch die Krimtataren, die in ihre Heimat zurückkehren wollten, aus der sie zwanzig Jahre zuvor deportiert worden waren, die Juden, die die Ausreise nach Israel verlangten, von wo sie vor rund zweitausend Jahren vertrieben worden waren, Gläubige aller Art, Nationalisten, ob russische oder litauische, und noch viele andere, die Forderungen an die sowjetische Regierung stellten. Und an allen Fronten tat sich etwas.
Edik gehörte zu keiner Gruppierung, er betrachtete sich als unabhängigen Journalisten und fand, die Gesellschaft müsse wissen, was im Land vorging. Micha war bereit, ihn darin allseits zu unterstützen.
Überraschend stellten sie fest, dass es schon nach ein Uhr nachts war.
»Nanu, wo bleibt denn Shenja?« Plötzlich erinnerte sich Edik an seine Frau. Kleinliche eheliche Überwachung war zwischen ihnen nicht üblich, aber normalerweise sagten sie einander vorher Bescheid, wenn es spät wurde.
Micha war erschrocken und brach hastig auf. Zufällig erwischte er einen O-Bus, der ins Depot fuhr, dann trabte er zwanzig Minuten bis nach Hause. Aljona schlief, und Micha bekam keinen Ärger.
Michas Leben kam in Schwung, wurde fröhlich und interessant. Aljona stand kurz vor dem Abschluss ihres Graphikstudiums und saß an ihrer Diplomarbeit – Illustrationen zu Hoffmanns Märchen. Micha hatte nun viele verschiedene Tätigkeiten, sein Tag war von früh bis abends
Weitere Kostenlose Bücher