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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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vollgestopft mit Treffen, und er war von vielen neuen Menschen umgeben. Am häufigsten besuchten ihn Edik und Shenja. Die hässliche Shenja mit ihren Zahnlücken und dem hellen Lachen entpuppte sich als höchst sympathisches Geschöpf. Zu Michas Freude lächelte Aljona und reagierte sogar auf Shenjas harmlose Scherze. Die vier wurden Freunde, besuchten einander, tranken zusammen Tee und Wein.
    Aljona war nun lebhafter, wacher, und ihr Gesicht, das meist den Ausdruck eines verschlafenen Kindes hatte, das noch nicht recht weiß, ob es weinen oder lachen soll, neigte nun zwar noch nicht zum Lachen, aber doch nicht mehr zum Weinen. Sie ließ sich sogar öfter auf Michas eheliche Forderungen ein. Seit ihrer Heirat war Aljona nämlich für ihn eher noch unerreichbarer geworden als früher, als sie ihn wenigstens hin und wieder von sich aus, ohne seine ausdrückliche Bitte, in Miljajewo besucht und bei ihm übernachtet hatte und im Bett zärtlich und entgegenkommend gewesen war.
    Seit ihrer Heirat gab es auf einmal eine Menge Hindernisse, eines unsinniger als das andere. Mal erregte sie der eheliche Verkehr zu sehr, so dass sie anschließend nicht einschlafen konnte, mal ermüdete er sie im Gegenteil so stark, dass sie danach den ganzen Tag schlief und nicht aufstehen konnte.
    Vermutlich litt sie an einer leichten sexuellen Störung, vielleicht infolge ihrer unglücklichen vorehelichen Erfahrungen. Sich begehrt zu fühlen, unerreichbares Objekt zu sein – das genoss sie an der körperlichen Liebe am meisten. Sie war süchtig nach der ständigen Bestätigung von Michas Begehren und eine Meisterin in der simplen Technik, ihren Mann stets in Bereitschaft zu halten, doch dabei mied sie den körperlichen Kontakt. Und je seltener Micha das schlichte eheliche Ritual vollziehen konnte, desto heftiger und schwindelerregender waren seine Gefühle.
    Während Aljona für ihren jungen Ehemann immer unnahbarer wurde, trug die Liebe ihn in die hohen Gefilde erhabener Gefühle. In einem verborgenen Winkel seines Bewusstseins entstanden ständig Verse. Seine Liebeslyrik, bei der Aljona die Mundwinkel herabzog, präsentierte er ihr schon lange nicht mehr. Aber unterdrücken konnte er sie auch nicht.
    Im Geist arbeitet Liebe.
Doch die Körper
sind bei der Arbeit auch noch mit im Spiel.
Legst du deine Hand in ihre –
Glücksgefühl!
Denn für die Wärme, die im Herzen rast
gilt wie für körperliche Lust
dasselbe Maß.
    Bald hatte Aljona unter den neuen Freunden, die sie in ihrem Zuhause – ohne Eltern und noch dazu mitten im Stadtzentrum – oft besuchten, auch Verehrer. Sie lebte auf, wenn Männer kamen, straffte sich und lächelte verschwommen. Micha empfand quälende Eifersucht, Aljona eine komplizierte Befriedigung. Es entstand eine Art Salonatmosphäre: obligate Verliebtheit in die Gastgeberin, Tee, Gebäck, Gespräche über die Kunst, Rezitationen neuester Gedichte, Vorträge. So reproduzierte Aljona, in einer neuen Generation und mit subtilerem Geschmack, den Stil ihres Elternhauses.
    Damals wurde es Mode, durch das Land zu reisen. Rucksäcke, Paddelboote, Zugfahrten auf billigen Sitzplätzen in offenen Liegewagen, riskante Autostops, Übernachtungen in Zelten und in verlassenen Dörfern – all das hatte als erster in ihrem Freundeskreis natürlich Ilja entdeckt. Er liebte solche Reisen, unternahm sie häufig ohne Begleitung, brachte von seinen Exkursionen museale Raritäten mit – Bücher, Ikonen, bäuerliche Alltagsgegenstände – und begeisterte seine Freunde für den russischen Norden, für Mittelasien und den Altai.
    Micha war nie mit Ilja gereist – er hatte seine Tante, solange sie noch lebte, nie lange allein gelassen. Im Frühjahr 1967 wollten die beiden jungen Paare – Micha und Aljona und Edik und Shenja – zum ersten Mal auf die Krim, nach Koktebel. Es sollte eine Pilgerreise werden, an das Grab eines Dichters, den Micha vergötterte.
    Bis Feodossija waren sie zwei Nächte und einen Tag unterwegs. In Moskau lag noch Schnee, gegen Morgen und je weiter sie nach Süden kamen, fuhren sie durch warmen Regen, der die Schneereste wegschwemmte, passierten Nebel und Dunstschleier, und als sie am Nachmittag eine andere Zeitzone erreichten und aus dem Fenster schauten, sahen sie bis zu den Knien im Wasser stehende Weiden mit angeschwollenen Gelenken und saftig prallen Zweigen. In Feodossija gerieten sie erneut in Regen – er war grau und schillernd. Mit einem Bus fuhren sie auf Holperstraßen nach Planernoje – zu

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