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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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vereinbaren waren unter dieser Staatsmacht, mit der er sein Leben lang Kompromisse geschlossen hatte. Im Fall Micha Melamid war der Kompromiss misslungen. Das war enttäuschend, insgesamt aber nicht vernichtend für ihre wichtige und sinnvolle gemeinsame Arbeit.
    Rink unternahm mehrere Versuche, eine Arbeitsstelle für den jungen Mann zu finden. Er hatte weitreichende Verbindungen in Pädagogenkreisen, doch nicht einmal er konnte eine Stelle auftreiben, bei der Micha seine experimentellen Forschungen zu neuen Methoden des Spracherwerbs hätte fortsetzen können.
    Jede wissenschaftliche Tätigkeit blieb Micha also verwehrt.
    Alles, was der Professor dem gescheiterten Doktoranden anbieten konnte, war eine Stelle als Literaturlehrer in einer Abendschule, allerdings nur als Stundenkraft. Die vorgesehenen acht Wochenstunden hätten knapp den Lebensunterhalt für acht Tage gesichert. Ein Monat aber hatte günstigstenfalls dreißig Tage. Aljona studierte, und das Studium zehrte alle ihre geringen Kraftreserven auf.
    Inzwischen war Micha zu dem Schluss gekommen, dass er allein keine Arbeit finden konnte. Im Kreisschulamt, wo er wegen einer Stelle als Lehrer für russische Sprache und Literatur nachfragte, teilte man ihm mit, in Moskau gebe es keine freien Stellen, er solle sich ans Ministerium wenden, vielleicht lasse sich in der Provinz etwas finden. Aber er solle ruhig seine Koordinaten dalassen, manchmal ergäben sich ja zeitweise Vakanzen.
    Ins Ministerium ging Micha nicht: Aljona war noch sehr jung, und um keinen Preis hätte er Moskau verlassen.
    Viktor Juljewitsch, der die pädagogische Arbeit aufgegeben hatte, meinte, eine Karriere als Schullehrer sei Micha jetzt verwehrt. Ihm bleibe nur der Nachhilfeunterricht. Er vermittelte Micha auch gleich einen Schüler. Doch das alles – Stundenkraft, Privatunterricht – war nicht das Richtige … Micha vermisste die Internatskinder!
    Er verlegte sich auf die stumpfeste aller Verdienstmöglichkeiten: auf dem Moskauer Güterbahnhof nachts Waggons be- und entladen. Er empfand die Arbeit nicht als besonders schwer, aber Aljona protestierte – Micha litt unter fortschreitender Kurzsichtigkeit, und eine solche körperliche Belastung war schlecht für seine Augen … Sie hatte recht.
    Eine andere regelmäßige Einkunftsquelle war das Blutspenden. Er wurde Blutspender, aber auch da gab es Beschränkungen: Höchstens einmal im Monat!
    Schließlich beschloss Micha, mit Ilja diverse unkonventionelle Varianten zu erörtern. Sie verabredeten ein Treffen im zugigen Miljutin-Garten, der einst zur Landvermessungsbehörde gehört hatte, auf einer Parkbank mit zwei fehlenden Latten. Sie hatten jeder eine Flasche Bier in der Hand und eine Aktentasche zu Füßen. Sanja war nicht dabei. Sie hatten entschieden, ihn nicht mit hineinzuziehen.
    Ilja hatte bald nach Beendigung der Schule als erster aus ihrem Jahrgang begriffen, dass er nicht für den Staat arbeiten wollte, weder von neun bis fünf noch von acht bis acht und auch nicht im Rhythmus »drei Tage arbeiten, ein Tag frei«, er wollte auch nirgends studieren, denn alles, was ihn interessierte, konnte er sich auch ohne disziplinarischen Drill und Zwang aneignen. Er wusste am besten, wie man ausweichen, sich entziehen, sich fernhalten konnte. Der sicherste Weg war eine fiktive Anstellung als persönlicher Sekretär bei einem Wissenschaftler oder Schriftsteller. Eine seltene, beinahe exklusive Variante, die Ilja eine relative Unabhängigkeit vom Staat sicherte. Zuverlässigere, aber weniger reizvolle Varianten waren mit einem tatsächlichen Aufwand an persönlicher Zeit verbunden – Stellen als Heizer, Hauswart oder beim Wachschutz. Was die »Kohle« anging, so kannte Ilja viele Möglichkeiten, sie zu verdienen.
    Ilja hielt Micha einen unvergesslichen Vortrag, in dem er ein weiteres Mal seine intellektuelle Überlegenheit demonstrierte.
    »Weißt du, Micha, etwas Interessantes tun und Geld verdienen, das sind eigentlich zwei verschiedene Dinge. Aber ich finde, man muss es schaffen, beides miteinander zu vereinbaren. Nehmen wir den Samisdat. Ein unglaubliches, ganz neuartiges Phänomen. Lebendige Energie, die sich von Quelle zu Quelle weiter verbreitet, Fäden werden gesponnen, es entsteht eine Art Netz zwischen Menschen. Luftwege für Informationen in Form von Büchern, Zeitschriften, abgetippten Gedichten, ganz alten und ganz neuen, neuesten Nummern der Samisdatausgabe »Chronik«. Für unzählige zionistische Schriften, erschienen in

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