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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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seiner Frau Shenja in einer Zweizimmerwohnung. Micha sah sich um und erlag wieder einmal dem Charme eines fremden, völlig anderen Zuhauses: Ediks Mutter war Buddhismusforscherin, an den Wänden hingen fernöstliche Bilder – buddhistische Ikonen, wie Edik erklärte. Ediks Frau, eine Archäologin, hatte in der Wohnung ebenfalls Spuren ihres Berufs verteilt – drei hässliche Tontöpfe. Die Frauen waren gerade nicht zu Hause.
    Edik gab die Samisdat-Zeitschrift »Gamajun« heraus, zwei Dutzend Seiten auf dünnem Papier, grob zwischen zwei blauen Pappdeckeln zusammengeheftet. Eine Zeitschrift für Literatur und Gesellschaft, bislang existierte nur ein einziges Exemplar der ersten Nummer. Micha griff sofort danach und sah es von vorn bis hinten durch.
    »Interessant! Aber warum ›Gamajun‹?«, fragte er.
    »›Alkonost‹ gab es schon, ›Phönix‹ auch, ›Sirin‹ gefällt mir nicht. Ich finde, ›Gamajun‹ ist genau das Richtige.«
    »Auch ein Vogel aus der slawischen Mythologie?«
    Edik klärte ihn sofort auf.
    »Ja, natürlich. Aber unser Vögelchen ist erstens höchst intellektuell, es kennt alle Geheimnisse der Welt, und zweitens kann es die Zukunft vorhersagen. Erst wollten wir die Zeitschrift »Historisches Projekt« nennen, aber dann fanden wir das zu nüchtern. Es geht vor allem um Aufklärung. Und natürlich um zeitgenössische Poesie.«
    An einer Zeitschrift mitzuarbeiten, die der unaufgeklärten Menschheit Augen und Ohren öffnete, dazu war Micha bereit.
    Ilja ließ Micha bei Edik, und die beiden neuen Bekannten aßen zusammen graue Makkaroni. Danach einigten sie sich darauf, dass »Gamajun« weiterhin eine Zeitschrift für Literatur und Gesellschaft sein sollte, kein politisches Magazin. Das heißt, sie sollte nur ein Minimum Politik enthalten. Edik interessierten eher historische Prognosen, Untersuchungen zu Trends und Vorlieben in der Gesellschaft, im Grunde soziologische Themen.
    »Und was die Literatur angeht, da interessieren mich Poesie und Science-Fiction am meisten. Die Science-Fiction verallgemeinert mit künstlerischen Mitteln die Prozesse, die sich in der Welt vollziehen, und liefert interessante Prognosen. Die heutige westliche Science-Fiction, das ist Futurologie, Zukunftsphilosophie. Aber dafür fehlt mir einfach die Zeit. Wenn du noch die Science-Fiction übernehmen würdest, wäre das prima.«
    Micha überlegte – Science-Fiction war so gar nicht sein Gebiet. Er versprach, darüber nachzudenken.
    Sie beschlossen, gleich an Ort und Stelle den Poesie-Teil der nächsten Nummer zu entwerfen. Über die Struktur waren sie sich sofort einig: eine größere Gedichtsammlung eines einzelnen Autors und fünf bis acht Autoren mit je einem oder zwei Gedichten. Micha schlug eine Brodsky-Sammlung vor und murmelte sogleich begeistert:
    General! Unsre Karten sind Mist – Pardon.
Norden ist im Polarkreis und nicht da drüben!
Der Äquator kein Streifen der Uniform,
denn die Front, General, die liegt im Süden.
Die Distanz stört den Funkempfang ganz enorm,
wandelt jeden Befehl zum Boogie-Woogie.
    »Wen willst du mit Brodsky noch überraschen? Hör mal, was für neue Dichter es gibt, die noch kaum jemand kennt:
    Armlose Reiterstatue – Gedächtnis,
scharf galoppierst du, doch
du besitzt keinen Arm.
Donnernd schreist du im leeren Korridor heute,
so wunderschön leuchtest du auf am Ende des Korridors.
Abend war es und die Teewolken dufteten,
es wuchsen uralte dampfende Bäume uns aus den Tassen.
Jeder freute sich stillschweigend seines Lebens
und stärker als alle freute sich das Mädchen in Gelb…
    »Ja, das ist wirklich toll … Wer ist das?«
    »Wer, wer? Ein großer Bär. Ein junger Bursche aus Charkow. Ist vor kurzem nach Moskau gekommen. Den kennt noch keiner. Aber in fünf Jahren wird ihn jeder kennen. Wie heute Brodsky. Jede Wette. Den müssen wir bringen.«
    »Tja, ich weiß nicht. Ich finde, wir sollten lieber Chwostenko nehmen«, schlug Micha vor.
    »Ich mag Chwost, aber was ist er ohne Gitarre? Dieser Junge ist stärker …«
    »Wie heißt er denn, dieser Junge?«
    »Wozu willst du das wissen? Ich sage dir, in fünf Jahren wird ihn jeder kennen! Und du willst lieber Chwostenko?« Edik war ärgerlich, und der friedliebende Micha wurde verlegen.
    »So ein Quatsch! Wir haben noch gar nicht mit der Arbeit angefangen, und schon streiten wir uns.«
    Edik lachte.
    »So ist das immer bei mir. Dauernd verkrache ich mich mit Freunden. So bin ich!«
    »Wir sind Idioten!«, rief Micha.

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