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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Odessa vor der Revolution oder in Jerusalem im letzten Jahr, und für religiöse Literatur, von hiesigen Autoren und von Emigranten. Genau das ist mein berufliches Metier. Damit verdiene ich mein Geld. Für meinen Lebensunterhalt und für die Ausweitung des Geschäfts, das kostet auch einiges.«
    Micha sperrte buchstäblich den Mund auf. Ihm floss sogar ein wenig Speichel aus den Mundwinkeln, wie einem schlafenden Kind. Ilja predigte in tiefernstem Ton, und Micha war ganz überwältigt vom Inhalt des Vortrags wie auch von heftigem Stolz und Entzücken: Nein, dieser Ilja!
    »Eine große Sache!«, sagte Micha leise, beeindruckt von der Bedeutsamkeit seines Freundes.
    Ilja berauschte sich in diesem Moment selbst an seiner Wichtigkeit für den weltweiten Fortschritt. Das von ihm entworfene Bild entsprach nicht ganz den Tatsachen, war aber auch keine reine Erfindung. Die kleinen Dämonen der russischen Revolution – von Dostojewski beschrieben – ballten sich in den dunkel werdenden Winkeln des verkümmerten Gartens. Der lange Schatten des unschuldigen Tschechow bewegte sich zum Gartenbaugeschäft von Immer, in dem der Schriftsteller seinerzeit häufig vorbeigeschaut und Sämereien gekauft hatte, und im benachbarten Anbau lag fast zur gleichen Zeit, protektioniert von dem nicht ganz so unschuldigen Sawwa Morosow, der sanfte Jude Lewitan im Sterben, der mit seinen Bildern die russische Natur besang …
    An eben dieser Ecke, nur zwei Schritte entfernt, hatte vor zwanzig Jahren eine Straßenbahn quietschend und kreischend … ja, ja, Murygin.
    Aber insgesamt kam der Fortschritt voran, zweifellos!
    Ilja hatte sofort einen interessanten Vorschlag parat. Der Samisdat sei ein gesellschaftliches Phänomen geworden, und die Nachfrage nach neuem Stoff wachse ständig. Seit Mitte der sechziger Jahre sei auch die Provinz aufgewacht. Längst nicht der gesamte Samisdat werde von überzeugten Enthusiasten geschaffen. Es sei ein richtiger Markt entstanden, und da agierten die verschiedensten Leute, auch solche mit durchaus kommerziellen Interessen. Neben Texten, deren Preis allein vom Preis für das Papier oder die Filme bestimmt werde, kämen auch solche dazu, die eigens für den Verkauf produziert wurden. Es gebe sogar so etwas wie ein Vertriebsnetz. Einer der Akteure auf diesem Markt sei er, Ilja. Micha könne ihn beim Vertrieb unterstützen.
    Für den Vertrieb war Micha im Grunde wenig geeignet, das war Ilja klar: Er war zu auffällig, zu kontaktfreudig, zu unvorsichtig. Aber auch treu, zuverlässig und verantwortungsbewusst. Ilja hätte ihm diesen Vorschlag vielleicht nicht unterbreitet, aber Micha hatte wirklich keinerlei Einkünfte. Und obendrein eine Frau!
    Micha wurde also Handelsreisender.
    Die ersten Reisen führten nicht weit. Mit einem Rucksack voller Samisdat fuhr Micha per Bahn oder Bus in nahe gelegene Vororte – nach Obninsk, nach Dubna, nach Tschernogolowka. Dort traf er sich mit wissenschaftlichen Assistenten, übergab ihnen die Literatur, nahm das Geld in Empfang und kehrte am selben Tag zurück.
    Bekanntschaften zu schließen war verboten. Micha stellte sich als Andrej vor, der Abnehmer nannte gar keinen Namen. Normalerweise sagte er nur, er komme »von Alexander Iwanowitsch« oder »von Lew Semjonowitsch«.
    Vom Erlös erhielt Micha jedes Mal redlich verdiente fünf Rubel. Der Schein brannte ihm ein wenig in der Hand.
    Da war die Arbeit im Taubstummeninternat doch etwas ganz anderes gewesen. Dort hatte Micha auf ideale Weise alles gehabt, was er brauchte: ein bescheidenes, aber völlig ausreichendes Einkommen, absolute Befriedigung durch eine schöpferische und nützliche Arbeit, und das seltene Gefühl, das richtige Leben zu führen. Da brannte nichts in der Hand!
    Nach zwei Monaten gestand Micha Ilja, dass er gern eine sinnvollere Betätigung hätte, als mit dem Rucksack herumzureisen. Er habe sich die vorhandene Samisdatliteratur angesehen und glaube, er könne etwas Kreativeres tun.
    »Na, gut. Ich hab ja gewusst, dass es so enden würde.« Ilja wirkte eher unzufrieden, obwohl er normalerweise freudig aufblühte, wenn er die Probleme anderer lösen konnte. »Du brauchst Edik. Edik! Erinnerst du dich, so ein Langer!«, rief Ilja.
    Micha erinnerte sich. Er hatte bei ihm einmal Bücher abgeholt. Ja, Edik vergaß man in der Tat nicht so leicht – fast zwei Meter groß und ein rosiges Babygesicht ohne jeden Haarwuchs, bis auf die dichten Augenbrauen.
    Ilja brachte Micha zu Edik. Der wohnte mit seiner Mutter und

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