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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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verabschiedete sich schläfrig von den beiden und drehte sich wieder zur Wand.
    Zu Safjanow ging Micha zwei Wochen nach dem verabredeten Montag, erklärte, seine Frau sei krank, und Safjanow glaubte ihm: Micha wirkte vollkommen erledigt. Er erklärte, er könne das Angebot der Ausreise nicht annehmen, seine Frau wolle nicht, und auch er selbst sei nicht dazu bereit.
    Safjanow wunderte sich, zog die Brauen zusammen, rieb sich die Wange mit dem Mal und dachte angestrengt nach. Dann rief er per Telefon einen Kollegen herbei und ging hinaus. Nach einer knappen Dreiviertelstunde kam er wutgeladen zurück, schickte den Kollegen weg und führte das Gespräch nun in einem anderen Ton. Die Drohungen waren jetzt ganz unverhüllt und konkret.
    »Wir haben mehr als genug Belastungsmaterial gegen Sie, Michej Matwejewitsch. Ganz abgesehen von den Tataren. Beim letzten Mal waren wir noch nett zu Ihnen. Diesmal kommen Sie nicht so billig davon.«
    Er legte einen Packen gräuliches Papier vor sich hin.
    »So, Schluss mit dem Geplauder. Wir haben genug geredet. Ab jetzt nur noch Verhöre. Mit Protokoll.«
    »Ich werde nichts sagen. Wenn Sie genug Belastungsmaterial gegen mich haben, was soll ich da noch sagen«, entgegnete Micha leise, ohne Safjanow ins Gesicht zu sehen. Er schwieg zweieinhalb Stunden lang.
    Auf dem Heimweg glaubte er zweimal, den bekannten Fleck auf einer Wange zu sehen – observierte ihn Safjanow etwa? Das konnte nicht sein, aber Micha bildete sich ein, sein Gesicht zu sehen, immer wieder tauchte es irgendwo neben ihm auf.
    Er kam spät nach Hause. Brachte Aljona Tee, machte ihr ein Brot. Sie richtete sich in den Kissen auf, trank den Tee. Essen wollte sie nichts und mit ihm reden auch nicht.
    Nach elf kamen Ilja und Sanja. Sie saßen zu dritt beisammen, wie in alten Zeiten. Micha sagte, er werde seit einigen Tagen observiert und fürchte, sie könnten ihn jeden Tag verhaften. Sein Telefon werde bestimmt abgehört.
    Er griff sich mit gespreizten Fingern in die wuscheligen Locken – das Einzige an ihm, das Volumen hatte, ansonsten wirkte er fast körperlos, wie ein Scherenschnitt. Seit Aljona im Bett lag, rasierte er sich nicht mehr.
    Mit seiner knochigen Hand kratzte er sich den rotblonden Bart.
    »Was meint ihr?«
    »Na, was schon? Sie haben dir die Ausreise angeboten. Ich denke, du musst raus, hier überlebst du nicht.« Sanja war überzeugt, dass auch er selbst hier nicht überleben würde. Doch ihm als Russen bot niemand die Ausreise an.
    »Ja. Das ist der einzige Ausweg«, bestätigte Ilja.
    Micha blickte hinüber zu Aljona, die mit dem Rücken zu ihm dalag.
    »Versteht ihr denn nicht? Ich kann nicht, ich kann nicht. Und Aljona auch nicht.« Er sah vollkommen gehetzt aus.
    »Ich sag dir mal was, ja? Aber werd nicht gleich hysterisch, hör mir erst einmal zu. Fahr allein«, sagte Ilja.
    »Bist du verrückt? Meine Familie verlassen? Ist dir klar, was du da sagst?«
    »Aljona wird sich besinnen und nachkommen«, erklärte Ilja, überzeugt wie immer.
    »Wir helfen ihr beim Packen und schicken sie nach«, ergänzte Sanja unsicher.
    »Ach, schert euch doch zum Teufel! Redet nicht solchen Quatsch. Die Lage ist völlig ausweglos. Schlimmer geht’s nicht.«
    Sanja umarmte ihn kindlich, presste seine Wange an den kratzenden Bart und sagte beschwörend:
    »Micha, wir bitten dich sehr. Wenn du schon kein Mitleid mit dir selber hast, hab wenigstens welches mit Aljona und Maja. Aljona wird sich besinnen und dir folgen. Das ist eine Chance! Ach, wenn sie mir das anbieten würden! Ich würde sofort! Wie der Wind! Bitte, fahr! Anjuta hätte das auch gesagt!«
    Sie verließen Micha nach zwei Uhr nachts, Sanja angetrunken, Ilja nüchtern.
    »Hör zu, Sanja, ich muss dir was sagen. Du hast mir mal vorgeworfen, ich sei schuld. Ich meine, an Michas Verhaftung. Also, ich bin tatsächlich schuld, aber nicht an dem, was du mir unterstellst.«
    Sanja blieb stehen und schüttelte heftig den Kopf, um den Rausch zu vertreiben. Er trank eigentlich nicht, nur in Ausnahmefällen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
    »Das Ganze ist natürlich nicht sauber. Aber denk dran – Micha und du, ihr seid für mich wie meine Familie. Mehr sogar. Du weißt doch, dass ich euch unter keinen Umständen ans Messer liefern würde?«
    »Aber Ilja, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich meinte doch nur, dass du ihn in das alles reingezogen hast, na, die Sache mit der Zeitschrift und diese Bekanntschaften. Mein Gott, wie könnt ihr nur so viel

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