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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Geschwulst mit dem Handrücken ab, und Micha dachte: Der Hauptmann ist ein nervöser Mann. Ich dagegen scheine gar keine Nerven zu haben.
    Er lächelte und legte die Einladung auf den Tisch. Und seine Hand darauf, als könnte das Papier sonst wegfliegen.
    »Ich habe verstanden, Genosse Hauptmann. Ich werde es mir überlegen. Kann ich gehen?«
    »Gehen Sie, gehen Sie. Ich erwarte Sie am Montag, um fünfzehn Uhr.« Er unterschrieb Michas Passierschein. »Ich persönlich rate Ihnen, gut nachzudenken. Ein solches Angebot bekommen Sie kein zweites Mal!«
    Micha ging hinaus. War Winter? Frühling? Welche Tageszeit? Später Morgen? Früher Abend? Kitai-Gorod? Die Boulevards? Die Lubjanka?
    »Gib, Gott, dass ich nicht den Verstand verlier …«
    Nein, nein, das ist es nicht …
    Wird die Verdüsterung verschwinden
in meiner Seele krank und leer?
Wenn ich die Lösung endlich finde,
das Netz zerreiße um mich her?
Wann wird der Dämon, der vernebelt
mir den Verstand mit Schlaf …
    Vergessen. Er hatte vergessen, wie das Gedicht von Baratynski weiterging …
    Micha kreiste um sein Haus herum, entfernte sich davon, näherte sich wieder und fand nicht die Kraft, in die Wohnung zu gehen und Aljona gegenüber das bewusste Wort auszusprechen: Emigration.
    Schließlich raffte er sich auf, ging hinauf und erzählte ihr alles: von der Vorladung und von dem überraschenden Angebot. Aljona hörte ihn an. Ihr Gesicht verdüsterte sich unschön. Sie wandte die Augen ab, senkte die Lider, neigte den Kopf, so dass ihr das Haar ins Gesicht fiel, und flüsterte:
    »Das hast du immer gewollt. Jetzt sehe ich genau, dass du das immer gewollt hast. Aber du sollst eins wissen: Maja und ich werden niemals von hier fortgehen, nirgendwohin.«
    Nicht ihre Worte erschreckten ihn, sondern ihr plötzlich verändertes, verschlossenes Gesicht, das schlagartig misstrauisch und fremd geworden war. Ihre Augenbrauen schienen länger, ihre Lippen verengten sich zu einem schmalen Strich – und das vom Vater geerbte Kaukasische in ihrem Wesen, das Stolze oder Wilde, trat plötzlich deutlich zutage. Aljona legte sich aufs Sofa und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
    Von diesem Augenblick an hörte sie auf, sich zu waschen, zu essen, sich anzuziehen, zu reden, schleppte sich gerade noch zur Toilette, kehrte mit unsicheren kleinen Schritten zum Sofa zurück und drehte sich wieder zur Wand. Die Depression war so eindeutig und lehrbuchhaft, dass Micha sie selbst diagnostizierte. Nicht einmal Majas Gejammer konnte Aljona vom Sofa holen. Micha war verwirrt und verzweifelt. Einige Tage lang hetzte er zwischen Arbeit, Kind und Haushalt hin und her. Dann kam Shenja Tolmatschowa. Auch mit ihr wollte Aljona nicht reden, doch ihre Hilfe nahm sie an, als bemerkte sie sie nicht. Sanja erschien wieder, auf einen Anruf hin kam auch Ilja.
    Ilja schaute sich um, richtete den Blick nachdenklich in die Ferne, als suchte er irgendetwas, und schleppte schließlich den Psychiater Arkascha an. Arkascha war auch ein Dissident, er hatte Protestbriefe verfasst und die Strafpsychiatrie angeprangert, schon vor einem Jahr seine Stelle verloren und arbeitete nun als Pfleger in einem Vorstadtkrankenhaus. Er riet zu sofortiger Klinikeinweisung, stieß damit jedoch auf Ablehnung und verordnete starke Psychopharmaka.
    Maja rüttelte an Aljona, aber Aljona blieb teilnahmslos gegenüber allem, auch gegen ihre Tochter. Micha nahm schon die zweite Woche seine Tochter mit zur Arbeit. Er war nicht zur verabredeten Zeit zu Safjanow gegangen, und in den Briefkasten, in dem – das wusste er! – eine erneute Vorladung lag, schaute er lieber nicht.
    Nachdem Aljona eine Woche schweigend auf dem Sofa gelegen hatte, kam überraschend ihre Mutter Valentina Iwanowna aus dem Dorf im Gebiet Rjasan, wohin Tschernopjatow verbannt worden war. Unbegreiflich, was sie plötzlich nach Moskau getrieben hatte. Wahrscheinlich der Mutterinstinkt. Sie war entsetzt von dem, was sie sah, und fragte, was passiert sei, aber Aljona sprach nicht mit ihr.
    Valentina dachte an einige merkwürdige Episoden in der Kindheit ihrer Tochter zurück und drang nicht weiter in sie, sondern tat, was sie tun konnte – sie nahm Maja mit. Micha hatte mit großem Geschrei gerechnet, doch seine Schwiegermutter fing es sehr klug an: Sie flüsterte dem Mädchen ins Ohr, sie habe dort im Dorf eine Ziege, eine weiße Katze und ein buntes Hühnchen, und Maja, verführt von diesem kleinen Zoo, fuhr gern und willig mit der Großmutter. Aljona

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