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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Sie unterschreiben hier, und ich zerreiße ihn vor Ihren Augen …« Er hielt Micha den Haftbefehl unter die Nase.
    Es ist riskant, aber vielleicht gewinne ich einen Tag, dachte Micha. Was hat Ilja von diesem Hypnotiseur erzählt, wie hieß er noch? Ja, Messing. Der konnte jeden alles glauben machen. Was immer er wollte. Sogar Berija … Wie war das noch, er hat was unterschrieben? Oder nein, er hat nicht unterschrieben, er hat ihnen ein leeres Blatt Papier gezeigt, und sie haben darauf seine Unterschrift gesehen.
    Er nahm das Vernehmungsprotokoll vom Tisch und unterschrieb. Er war Lehrer, und in den Jahren, da er die Zensuren seiner Schüler unterschreiben musste, hatte er sich eine klare Unterschrift zugelegt – M. Mela … und dann ein langer, aufwärts geschwungener Schwanz.
    Er griff zum Stift, schrieb ein »N«, das aussah wie ein »M«, setzte dahinter einen Punkt, und dann folgte – »Achui« 18) und ein aufwärts geschwungener Schwanz. Es sah täuschend echt aus.
    18) Na chui heißt so viel wie »Leck mich«. Anm. d. Ü.
    »Bitte sehr. Aber jetzt muss ich dringend nach Hause zu meiner Frau. Sie liegt krank im Bett. Stellen Sie mir einen Passierschein aus«, sagte Micha mit einer besonderen, nachdrücklichen Stimme und konzentrierte sich auf eine bestimmte Stelle im Kopf, genau in der Mitte hinter der Stirn.
    Safjanow strich mit einer überraschend schönen Hand, die gar nicht zu ihm zu gehören schien, über das von Micha unterschriebene Papier und rief jemanden an. Ein Sergeant brachte den Passierschein.
    Unterschreib, unterschreib, befahl Micha dem Hauptmann in Gedanken.
    Safjanow unterschrieb den Passierschein, und Micha strebte rückwärts zur Tür, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er ging zusammen mit dem Sergeanten hinaus. Es war ihm völlig egal, wann sie seinen Scherz entdecken würden. Er hatte Zeit gewonnen!
    Mit raschen Schritten ging er den Tschistoprudny-Boulevard hinauf. Er lief bis nach Hause, fühlte sich leicht, beinahe schwerelos, und dachte an nichts. Zu Fuß stieg er in den fünften Stock. Es war kurz nach vier. Der Fahrstuhl war mal wieder außer Betrieb.
    Er setzte sich an den Tisch, wollte seine Gedichte durchsehen, spürte aber plötzlich, dass dafür keine Zeit mehr war. Er schob den ganzen Stapel beiseite. Diese Gedichte sind kindlich, ja, kindisch. Ich bin bald vierunddreißig. Und schreibe noch immer kindliche Gedichte. Und werde nie erwachsene schreiben. Weil ich selbst nie erwachsen geworden bin. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, da ich zum ersten Mal im Leben wie ein Erwachsener handeln kann. Mich endgültig befreien kann, von meiner Schwäche, meiner Untüchtigkeit. Und Aljona und Maja befreien von meiner unsinnigen Existenz, von meinem absoluten Unvermögen, das normale und vollwertige Leben eines Erwachsenen zu führen.
    Was für ein einfacher und sicherer Ausweg. Warum war ihm das früher nie in den Sinn gekommen? Wie gut, dass er noch keine vierunddreißig war. Denn mit dreiunddreißig hatte Jesus etwas getan, das sein absolutes Erwachsensein bestätigte: Er hatte freiwillig sein Leben gegeben für eine Idee, für die Micha eigentlich wenig Verständnis aufbrachte – Sühne für fremde Sünden.
    Über sich selbst bestimmen – das bedeutet Erwachsensein. Egoismus dagegen ist eine Eigenschaft von Halbwüchsigen. Nein, nein, ich will kein Halbwüchsiger mehr sein …
    Er ging ins Bad, duschte. Zog ein sauberes Hemd an. Trat ans Fenster. Die Rahmen waren morsch, die Scheiben schmutzig, das Fensterbrett aber war sauber. Er öffnete das Fenster – Regen, Dämmerung, schwaches, kümmerliches Stadtlicht. Die Straßenlampen waren noch nicht an – draußen herrschte ein sanftes Schimmern.
    Er zog die Schuhe aus, um keine schmutzigen Abdrücke zu hinterlassen, und sprang aufs Fensterbrett, wobei er sich nur leicht abstützte. Dann murmelte er »Imago, Imago!« und sprang leichtfüßig hinunter.
    Und die Flügel? Durch den Riss im Chitin zwängen sich die feuchten Spitzen des zusammengelegten Flugwerks. Mit einer langsamen, gleitenden Bewegung entfalten sich die Flügel, trocknen an der Luft, und sind bereit zum ersten Schwingen. Sie sind netzartig wie bei einer Libelle oder häutig wie bei einem Schmetterling, haben eine komplizierte und vollkommene Äderung, sind steif wie in der Urzeit oder ökonomisch faltbar … Das geflügelte Geschöpf fliegt fort und hinterlässt auf der Erde seine Chitinhülle, seinen leeren Sarg, und neue Luft füllt seine neuen Lungen, und neue Musik

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