Das gruene Zelt
trinken? Das ist ja scheußlich!«
Sanja lehnte seinen Kopf gegen Ilja, der umfasste zärtlich seine Schultern und brachte ihn nach Hause. Ihnen allen ging es schlecht. Sehr schlecht.
In einem irrte Micha – wenn er glaubte, dass es nicht schlimmer kommen könnte. Am nächsten Tag wurde es noch schlimmer. Als er zur Arbeit kam, rief ihn der Kaderleiter zu sich, erklärte, mehrere Pakete seien verschwunden, und wedelte mit einem Packen Quittungen.
»Sehen Sie, da ist Ihre Unterschrift drauf, dass Sie sie abgeschickt hätten, aber sie sind nicht angekommen! Lauter wertvolle Muster, hier steht auch der Wert.«
Der Kaderleiter hatte anfangs leise gesprochen, geriet aber schnell in Rage, und bald brüllte er unflätige Flüche.
Micha begriff sofort, wie es weitergehen würde – er sollte kündigen. Genauso war es: Entweder Sie kündigen, oder wir übergeben die Sache dem Gericht!
Micha schrieb eine Kündigung »auf eigenen Wunsch« und ging nicht einmal in die Buchhaltung, um sein noch ausstehendes Gehalt abzuholen. Das war Safjanows Werk, todsicher.
Es war Dienstag, am Donnerstag musste er erneut zu Safjanow. Doch am Mittwoch geschah etwas Unvorhergesehenes. Und es wurde noch schlimmer. Unangemeldet, ohne vorherigen Anruf, kam Aljonas Mutter aus Rjasan. Mit dem Auto, sie saß selbst am Steuer. Das war erstaunlich: Früher konnte sie nicht Auto fahren. Also hatte sie den Führerschein gemacht. Sie brachte Maja mit, aber keineswegs, um sie den Eltern zurückzugeben. Sie wollte Aljona abholen.
Und das war seltsam: Aljona, die ihren Vater seit dem Prozess nicht mehr hatte sehen wollen, stand auf und packte gehorsam ihre Sachen. Noch nie hatte Micha sie so fügsam erlebt. Ihren Eltern gegenüber war sie immer unabhängig, ja frech gewesen. Valentina half ihr beim Packen und redete sanft auf sie ein.
»Wir haben auch schon ein Zimmer für dich eingerichtet, mit Fenstern zum Garten. Lisa Jefimowna hat mir Mohairwolle geschickt, für Mützen. Einen ganzen Korb voll, zwanzig Knäuel. Das reicht auch für einen Pullover. Für Maja hab ich die Mütze da gestrickt, die blaue.«
»Blau, ja.« Aljona nickte.
Micha schaute ihnen beim Packen zu und konnte nichts sagen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Valentina blickte nicht einmal in seine Richtung, als wäre er gar nicht da.
»Weißt du, Papa und Maja sind dicke Freunde geworden. Sie weicht ihm nicht von der Seite.«
»Ja, ja.« Aljona sprach mit weicher, bedächtiger, vollkommen fremder Stimme.
Micha trug das Gepäck hinaus, legte es in den Kofferraum des blauen Moskwitsch. Maja winkte ihm lebhaft, Aljona nickte ihm zu wie einem flüchtigen Bekannten. Er hatte sich nicht einmal entschließen können, sie zum Abschied zu küssen.
Am nächsten Tag musste er wieder zu Safjanow und sich erneut jede Menge Drohungen anhören, all diese Scheußlichkeiten. Er wusste, dass er auf der Kippe stand.
Am Morgen erhob er sich früh, wie gewohnt, doch er musste ja nicht mehr zur Arbeit. Er empfand eine solche Leere, dass es in den Ohren hallte. Oder hatte er zu hohen Blutdruck? Zwei Stunden lang sah er seine alten Gedichte durch.
Schlecht, was für schlechte Gedichte, konstatierte er ohne besondere Enttäuschung. Er wollte einen Teil davon wegwerfen und legte einen ganzen Stapel beiseite. Doch zum Wegwerfen konnte er sich noch nicht aufraffen.
Er war pünktlich bei Hauptmann Safjanow. Der wirkte triumphierend, als hätte er Grund zum Feiern. Vielleicht haben sie irgendeinen Feiertag?, dachte Micha. Aber nein, bis zu den Novemberfeiertagen waren es noch zwei Wochen.
»Wir haben alles Mögliche für Sie versucht, Michej Matwejewitsch … Haben Ihnen sogar etwas angeboten, was wir nur in Ausnahmefällen tun – die Ausreise.«
Micha schüttelte den Kopf und formte zugleich mit den Fingern – was er gar nicht bemerkte – ein Nein.
»Schauen Sie hier« – Safjanow hielt ein Papier hoch, und Micha las Haftbefehl . »Hier steht kein Datum drauf. Ich kann das von heute oder das von morgen einsetzen. Und hier ist Ihre Aussage.« Er wedelte mit vollgeschriebenen Blättern. »Sie haben sie nicht gemacht. Nein, Sie haben sie nicht gemacht … Aber Sie können sie gern lesen.«
Micha nahm das Protokollformular. In steifen Worten, mit grammatikalischen Fehlern, in einer Sekretärinnenhandschrift mit kräftigem Druck auf jedem Buchstaben stand da eine Denunziation gegen Menschen, von denen er die meisten noch nie gesehen hatte.
»Das ist das Letzte, was ich Ihnen noch anbieten kann.
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