Das gruene Zelt
früher ohne das alles leben konnte! Wenn ich nach Hause komme, werde ich anfangen, Russisch zu lernen!«
»Aber Debby, wozu denn?«
Debby brauste auf, ihr Temperament war nicht irisch – obwohl auch ein irisches Temperament nicht ohne war! –, sondern geradezu italienisch.
»Ich lublu ! Ich lublu die russische Sprache! Du bist natürlich sehr gebildet, ich weiß! Aber ich bin begabt! Ich lerne schnell! Ich habe Spanisch gelernt! Ich habe Portugiesisch gelernt! Ich werde auch Russisch lernen! Du wirst sehen!«
Ein wenig erschrocken schnitt Sanja rasch ein neues, entlegenes Thema an:
»Debby, weißt du, wer Isadora Duncan war?«
»Natürlich! Ja, natürlich! Ich bin doch Feministin! Ich kenne alle herausragenden Frauen! Tanz der Zukunft! Ein neuer Tanzstil, barfuß und in weiten Gewändern! Und ihre Liebhaber waren Gordon Craig und ein russischer Dichter, den Namen hab ich vergessen …«
»Debby, sie hat 1922 in diesem Hotel gewohnt, hier hat ihre Romanze mit Sergej Jessenin angefangen!«
Debby reckte die Hände gen Himmel wie zum Gebet.
»Mein Gott! Das ist unglaublich! Und ich wohne auch hier! Aber ohne jede Liebesgeschichte!« Sie lachte. »Nein, ich habe eine Liebesgeschichte mit Russland!«
Am nächsten Tag gingen sie, sicherheitshalber von Olga und Ilja begleitet, zum Hochzeitspalast in der Gribojedow-Straße, der zentralen Stelle, wo Ausländer mit russischen Mädchen getraut wurden. Sie waren eine seltene Ausnahme – ein Russe, der eine Amerikanerin heiratete. Debbys amerikanische Dokumente waren sorgfältig vorbereitet – einige Papiere waren sogar überflüssig. Sanja hatte seine Geburtsurkunde nicht dabei, deshalb musste er ein Taxi nehmen und zu Hause danach suchen – auch wenn er keine Ahnung hatte, wo. Doch seine Großmutter ließ ihn auch diesmal nicht im Stich. Auf dem Regal mit ihren Lieblingsbüchern, zwischen französischen Romanen, stand ein Ordner, und der enthielt perfekt geordnet Sanjas sämtliche Dokumente, von der Geburtsurkunde bis zum Konservatoriumsdiplom und Impfbescheinigungen.
Ihr Antrag wurde genehmigt, der Hochzeitstermin auf Mai festgesetzt.
»Unsere Fanja hat immer gesagt: Im Mai gefreit, ein Leben lang gereut«, sagte Olga.
Ilja und Olga nahmen lebhaften Anteil an dem Hochzeitsabenteuer. Olga kochte begeistert Borstsch und machte Pelmeni.
Debby war hingerissen – von Moskau, vom Borstsch und von den russischen Menschen, mit denen sie zusammenkam. Ihr gefiel im Sowjetland alles, bis auf die Lage der Frauen. Ihre Schlüsse zog sie daraus, dass Olga kochte, das Geschirr spülte, sich um den halbwüchsigen Sohn kümmerte, und Ilja ihr kein bisschen dabei half. Als sie versuchte, ihr Unverständnis darüber zu äußern, verstand Olga sie gar nicht.
An ihrem letzten Moskauer Tag kam Debby in Sanjas Wohnung. Der Besuch war nicht geplant, es hatte sich einfach so ergeben; sie waren durch Kitai-Gorod gestreift, als Debby plötzlich dringend auf die Toilette musste. Die nächstgelegene befand sich in Sanjas Wohnung. Seine Mutter und sein Stiefvater waren nicht zu Hause. Debby warf ihren Nerzmantel in Anjutas Sessel, ging über den Gemeinschaftsflur zur Gemeinschaftstoilette und warf danach noch einen Blick in die Gemeinschaftsküche.
Dies war für die Texanerin eine weitere Ernüchterung. Sie hatte schon zuvor nichts für den Sozialismus übriggehabt, und eine einzige Toilette für fünfundzwanzig Mieter machte ihr diese Gesellschaftsordnung nicht sympathischer. Irritiert war sie auch, als sie sich in Anjutas Sessel setzte und sich umschaute: ein antikes Klavier, eine bauchige Kommode mit Klauenfüßen, mit Blumen und Vögeln bemalt, Schränke voller Bücher in drei Sprachen, Noten, Bilder, ein funkelnder blauer Kristallkronleuchter … All diese Dinge bekam sie in ihrem Kopf kaum zusammen – die ärmliche Gemeinschaftswohnung und Sanjas kultiviertes Zuhause.
»Wärm dich auf. Möchtest du einen Tee? Ich lege Musik auf …«
»Vielleicht kannst du selber was spielen?«
Sie zog die alberne rote Zipfelmütze vom Kopf, und ihr rotes irisches Haar knisterte trocken.
Sanja setzte sich auf den Drehhocker. Er überlegte – und spielte das Präludium Nr. 1 in C-Dur.
Debby hatte die Hände wie eine Bäuerin auf dem Bauch gefaltet und analysierte die entstandene Situation. Sie war keineswegs ein Dummchen, wie Sanja glaubte. Dieser russische Junge – er war knapp über dreißig, nur drei Jahre jünger als sie – gefiel ihr sehr.
Er war jünger, gebildeter und gehörte
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