Das gruene Zelt
zudem ganz offenkundig zu einem feineren Menschenschlag, mit dem sie bislang nie in Berührung gekommen war.
Als Sanja zu Ende gespielt hatte, traf Debby eine Entscheidung: Da ihr nun einmal dieser seltsame und verrückte Vorschlag gemacht worden war, hatte das bestimmt etwas zu bedeuten – sie würde diesen Jungen richtig heiraten.
Sanja ahnte nicht, dass die Sache eine so gefährliche Wendung nahm.
Am letzten Abend schlug das Wetter um. Als wäre Moskau es leid, sich Debbys wegen anzustrengen. Feuchter Wind kam auf, es wurde wärmer, vom Himmel fielen stechende Graupelflocken. Sanja wollte mit Debby in ein Richter-Konzert, doch das fiel aus. Sie gingen zu Fuß zu Olga und Ilja.
Olga bewirtete die Freunde mit einem, wie sie sich ausdrückte, vorhochzeitlichen Abendessen. Sanja hatte es inzwischen reichlich satt, seine Braut spazieren zu führen, und auch die Sache mit der Heirat gefiel ihm nicht mehr. Überhaupt war das gar nicht seine Idee gewesen!
Olga servierte Piroggen und Salate, Ilja holte eine Flasche Wodka aus dem Schrank unterm Küchenfenster; er wurde schon als Kühlschrank genutzt zu der Zeit, da das Haus gebaut worden war und nicht jeder von einem elektrischen Kühlschrank träumen konnte.
Debby aß viel und trank viel. Sie saß neben Sanja und suchte ihn immer wieder anzufassen, zu drücken, fröhlich und wie zum Scherz. Sie näherte ihm ihr lächelndes Gesicht, und plötzlich entdeckte er, dass über der oberen Zahnreihe ein rosa Streifen schimmerte. Sofort überfiel ihn eine Jugenderinnerung: Nadkas Zahnfleisch! Die Potapow-Gasse!
»Sanetschka, warum sträubst du dich? Wenn du so kalt bleibst, heirate ich dich nicht! Aber wenn du dich gut benimmst, stecke ich dich einfach in meinen Büstenhalter und schmuggle dich hinaus!«
»Debby, wir hatten eine andere Abmachung! Wenn wir verheiratet sind, werde ich ein idealer Ehemann sein – du wirst mich einfach nicht zu Gesicht bekommen!«
»Nein, nein, ich habe es mir anders überlegt! Ich glaube, ich kann dich gebrauchen, in der Küche und im Schlafzimmer.«
Am nächsten Tag brachte Sanja sie mit einem Taxi nach Scheremetjewo. Sie küssten sich zum Abschied. Bevor Debby im Gang verschwand, winkte sie ihm noch einmal mit ihrer Zipfelmütze. Nach Hause fuhr Sanja mit dem Bus. Ein Sturm pappte die Fensterscheiben mit Schnee zu.
Ich gehe nicht nach Hause. Zu Ilja mag ich nicht. Ich gehe zu Micha, dachte Sanja.
Und sofort fiel ihm ein: Micha ist nicht mehr da. Auch Großmutter nicht.
Geblieben waren die unglückliche Aljona, Maja, seine Mutter, die nicht mehr sie selbst war, und der schreckliche Lastotschkin. Und die Musik, von der die absurden Umstände ihn zeitweilig getrennt hatten. Also hatte Pierre recht – blieb nur die Flucht? Oder – das Gesicht im Gobelinkissen vergraben? Oder – wie Micha …
Ihn schauderte. Die Depression war ganz nah.
Debby erschien ohne jede Vorwarnung in Palo Alto.
Der kalifornische Winter hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem russischen: 59 Grad Fahrenheit, das waren 15 Grad Celsius. Während sie in den zweiten Stock hinaufstieg, den Nerz hinter sich herschleifend, überlegte sie, wieviel man wovon abziehen und womit multiplizieren musste. Sie erinnerte sich genau, dass in Moskau 25 Grad unter Null geherrscht hatten.
Sie stieß gegen die Tür – sie war offen. Von der Schwelle her rief sie:
»Pierre! Russische minus 25, wieviel Grad sind das auf Amerikanisch?«
Pierre kannte die Umrechnungsformel.
»Na, ungefähr 19.«
Debby schleuderte den Pelzmantel in einen Sessel, er rutschte zu Boden.
»Bist du verrückt? Du hättest vorher anrufen sollen! Ich bin eben erst gekommen! Du hättest mich beinahe verfehlt!« Pierre war ärgerlich.
»Ich bin selber gerade erst gelandet! Ich brauche keinen Pelzmantel! Bei unserem Klima braucht man überhaupt keinen Pelzmantel! Das ist einfach eine Beleidigung!«
»Moment! Hast du es dir etwa anders überlegt? Was ist eine Beleidigung? Wir waren uns doch einig!«
Auf dem Tisch stand eine angebrochene Flasche Whisky, und Debby griff danach. Pierre nahm sie ihr aus der Hand und goss ihr ein drittel Glas ein.
Debby stürzte den Whisky hinunter und knallte das nasse Glas auf den Glastisch – es gab einen hässlichen, gefährlichen Ton.
»Er könnte mich schließlich auch einfach so heiraten! Warum? Warum will er mich nicht heiraten?«
Pierre nahm Eis aus dem Kühlschrank und schenkte noch einmal Whisky ein.
»Moment, Moment! Wir hatten eine Abmachung – ein Nerzmantel
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