Das gruene Zelt
Bauch war ein einziger blauer Fleck. Nebenbei staunte sie, wie gut dieser dürre Junge mit dem vollkommen kindlichen Gesicht für sein Leben als Mann ausgestattet war. Aus der Wanne stieg Ilja allein, lief bis zur Liege und sackte um. Sie zogen ihm ein Frauennachthemd an, deckten ihn zu, gaben ihm starken gesüßten Tee zu trinken, schoben ihm ein großes Kissen unter den Rücken, setzten ihn auf und fütterten ihn mit Suppe. Dann schlief er ein.
Die Steklows setzten sich schweigend an den Tisch.
»Anjuta, ich glaube, heute sind viele Menschen umgekommen«, sagte Sanja leise zu seiner Großmutter.
»Wahrscheinlich …«
Dann setzte sich Sanja neben den schlafenden Ilja und wartete darauf, dass der aufwachte und erzählte, was draußen los gewesen war. Sanja betrachtete den Freund mit widerstreitenden Gefühlen: Er war stolz auf ihn, beneidete ihn ein wenig, weil er selbst nicht so war, wollte aber andererseits auch gar nicht sein wie Ilja. Außerdem begriff er, dass Ilja ein Mann war – davon zeugte nicht nur der dunkle Flaum unter seiner Nase, sondern auch der behaarte Streifen am Unterbauch bis zu dem großen, erwachsenen Glied, das nicht nur zum Pinkeln gemacht war. Einen nackten Mann hatte Sanja bis dahin noch nie gesehen; er ging nicht in öffentliche Bäder.
Auch eine nackte Frau hatte er noch nie gesehen – warum sollten zwei kultivierte Frauen, seine Mutter und seine Großmutter, sich auch vor ihm ausziehen? Aber vom Weiblichen hatte er eine Vorstellung, es war zu erahnen: die Brust unterm Kleid, das dunkle Haarnest unterm Bauch. Der nackte Mann, sein Freund und Mitschüler Ilja, beeindruckte Sanja weit mehr. Ihm war klar, dass er selbst nicht so war und nie so sein würde. Die Abbildungen nackter Frauen – Sanja hatte schon viele gesehen, in Museen und Bildbänden – lösten in ihm keine derartige Erregung und Verlegenheit aus wie die Nacktheit eines Mannes. Er verlor beinahe das Bewusstsein angesichts dieser Grobheit und Kraft.
Krieg und Frieden hatte er fast ausgelesen, die weiblichen Schatten hatten ihn nicht berührt – weder Natascha mit ihrer albernen Begeisterung noch die kleine Fürstin Lisa mit der zu kurzen Oberlippe oder Prinzessin Marja, die von vornherein für hässlich erklärt wurde, aber die Männer … Sie waren herrlich – mit ihrer Kraft, ihrer Großzügigkeit, ihrem Edelmut und ihrem Ehrgefühl. Als Sanja nun Iljas Gesicht betrachtete, überlegte er, welchem dieser wundervollen Männer Ilja ähnelte. Nein, nicht dem trockenen, edlen Bolkonski, nicht dem dicken klugen Besuchow und auch nicht dem wunderbaren, heißgeliebten Petja Rostow und natürlich nicht Nikolai … Am ehesten Dolochow.
Maria Fjodorowna, Iljas Mutter, saß den zweiten Tag auf einem Stuhl an der Wohnungstür. Ein Telefon hatten sie damals noch nicht, deshalb konnte Anna Alexandrowna ihr nicht mitteilen, dass ihr Sohn lebte. Hinauszugehen wagte sie nicht. Ohnehin hätte sie die Straßenbahngleise an der Kreuzung nicht überqueren können, denn dort stand eine Sperrkette aus Militär und Miliz.
Über der Stadt hing Grauen – ein archaisches, nur aus der griechischen Mythologie bekanntes Gefühl beherrschte die Stadt, überschwemmte sie wie eine schwarze Welle, jenes Grauen aus kindlichen Albträumen, das vom Grunde der Seele kommt. Ein unterirdischer Schlund hatte etwas herausgeschleudert, das jedes menschliche Leben bedrohte.
Vollkommen erstarrt warteten auch die Eltern von Borja Rachmanow. Anrufe bei der Miliz, in Krankenhäusern und Leichenhallen waren vergebens. Überall war besetzt.
Sie sollten Borja erst vier Tage später finden, zwischen den Leichen, die vor dem überfüllten Leichenschauhaus Lefortowo im Schnee lagen. Und ihn am Wäschezeichen an seinem Hemd erkennen; weiße Hemden wusch seine Mutter nicht selbst, sondern gab sie in die Wäscherei. Am Arm des toten Jungen war eine weitere Nummer, mit lila Farbe geschrieben: 1421.
Diese totgetrampelten Menschen wurden still und heimlich begraben. Niemand hat sie gezählt, nur die Nummer an Borjas Arm bezeugte, dass es mindestens anderthalb Tausend waren.
Niemand legte einen Kranz von der Schule auf Borja Rachmanows Grab. Überhaupt gab es in diesen Tagen keine Blumen, die waren restlos für den Vater aller Völker draufgegangen. In diesen schrecklichen Tagen starb noch jemand, ganz privat, zu Hause: der Komponist Sergej Prokofjew. Aber das interessierte erst recht niemanden.
Von Iljas Fotos waren nur zwei etwas geworden. Die Beleuchtung war, wie
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