Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
Vom Netzwerk:
Überraschung: An der Tür zum Dachboden hing ein neues stählernes Vorhängeschloss in einer massiven Halterung, die sich ohne Werkzeug nicht lösen ließ. Aber in diesem seltsamen Haus gingen die Flurfenster nach zwei Seiten hinaus – im zweiten Stock auf den Hof, im ersten und dritten auf die Straße. Ilja stieg in den dritten Stock und schaute auf die Straße. Sie sah aus wie ein schwarzer Fluss, die Köpfe der Menschen wirkten von oben wie Pelzkräusel und bewegten sich wie das Fell eines unheimlichen Tieres. Ilja machte ein Foto, obwohl er ahnte, dass es aus dieser Entfernung nicht gut werden würde, und beschloss, noch eins vom ersten Stock aus zu machen. Im ersten Stock konnte er das Fenster öffnen, von unten drang ein gleichmäßiges Heulen, hin und wieder durchbrochen von einem Aufschrei oder einem Kreischen. Von hier aus sah die Menge nicht mehr aus wie ein Pelztier. Die Köpfe, wie dicht an dicht liegende dunkle Steine, bewegten sich ziemlich rhythmisch, blieben aber am selben Fleck. Eine verrückte Straße aus lebendigen Pflastersteinen, die auf der Stelle tanzte.
    Ilja schoss mehrere Fotos, entschied aber, dass es vom dritten Stock aus doch eindrucksvoller aussah. Die Angst, die er vor ein paar Minuten empfunden hatte, war vergessen.
    Plötzlich kam eine betrunkene Frau in einer roten Kittelschürze aus einer Wohnung gestürzt und schrie:
    »Was machst du da? Hast du nichts zu tun?«
    Dem folgte ein langer, obszöner Satz, der Ilja verwirrte.
    Er war so klug, nicht zu antworten, zeigte auf seinen Mund und seine Ohren, von wegen, ich bin taubstumm, woraufhin die Frau herzhaft ausspuckte und verschwand.
    Im dritten Stock verknipste Ilja fast den gesamten Rest des Films und überlegte schon, wie er am schnellsten nach Hause kam. Er sah, dass der übliche Weg, vom Trubnaja-Platz den Roshdestwenski-Boulevard hoch, über die Sretenka zum Tschistoprudny-Boulevard, nicht in Frage kam. Doch er glaubte, wenn er sich über den Platz schlug und auf die andere Seite gelangte, würde er dort leichter vorwärtskommen. Er wusste nicht, dass die Menschenmenge, die vom Roshdestwenski-Boulevard herunterkam, auf dem Trubnaja-Platz auf eine andere aus der Gegenrichtung traf, die vom Petrowski-Boulevard herströmte, so dass sich ein tödlicher Strudel bildete.
    Aber Ilja wollte nicht bis zum Ende aller Tage hier im Hausflur verharren, außerdem war seine Mutter bestimmt schon zu Hause und weinte. Er blieb noch eine Weile auf dem Fensterbrett sitzen, überlegte, ob er den restlichen Film aufheben oder jetzt gleich die letzten paar Fotos verschießen sollte, da es schon dämmerte. Dann hatte er das Herumsitzen satt und beschloss, sich nach Hause durchzuschlagen, egal wie.
    Den Hof zu verlassen war noch schwieriger, als in ihn hineinzugelangen. Doch Ilja wusste sich zu helfen: Er klingelte an einer Wohnungstür im Erdgeschoss und bat den Hausherrn, ihn durch die andere Tür hinaus auf die Straße zu lassen. Der Alte schüttelte den Kopf und grunzte kaum verständlich, die Vordertür sei verschlossen, aber durch das Heizhaus gelange man hinaus.
    Der Alte muss sich nicht verstellen, der ist wirklich fast taubstumm, dachte Ilja amüsiert; derartige Zufälle bereiteten ihm immer Vergnügen. Der Hof war vollkommen leer, keine Menschenseele, doch von draußen drang das dumpfe, mächtige Dröhnen der zusammengepressten Menge. Ilja entdeckte das Heizhaus, es war verschlossen. Er kletterte aufs Dach, dann die Wand herunter, und sprang auf den leeren Bürgersteig, den eine militärische Absperrkette von der Menge trennte. Daran musste er vorbei, um in den Menschenstrom zu gelangen. Er lief ein Stück in Richtung Kreuzung und schlüpfte zwischen zwei Soldaten hindurch auf die von Menschen verstopfte Fahrbahn. Sofort wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte, er hätte lieber im Hausflur sitzen bleiben sollen. Augenblicklich wurde er mit gewaltiger Macht fortgerissen, wie von starker Meeresströmung. Ein Stück vor ihm stand eine Ampel.
    Nun bekam Ilja zum ersten Mal wirklich Angst, nun bangte er nicht mehr um seinen Fedja, der beim Aufprall gegen den Ampelmast zerschellen konnte. Er dachte daran, was mit seinem Kopf geschehen würde. Die Hände, die den Fotoapparat schützten, konnte er nicht einmal mehr bewegen. Der Apparat bohrte sich in seinen Bauch, aber er spürte keinen Schmerz, sondern nur schreckliche Verzagtheit. Er wurde in Richtung Ampel geschwemmt, blieb jedoch ein Stück links davon. Ein Mann mit zerquetschtem

Weitere Kostenlose Bücher