Das gruene Zelt
Gesicht stand gegen die Ampel gepresst. Er war tot. Doch er konnte nicht umfallen.
In diesem Augenblick erbebte die Erde unter Ilja und tat sich auf. Er flog in einen Kanalisationsschacht, dessen Deckel von den Füßen der Menge aufgeschoben worden war. Ilja fiel glücklich, auf einen Haufen Werg, den Klempner dort liegengelassen hatten. Links von ihm befand sich ein Gitter, das ein Stück aufgeklappt war. Mit einem Ruck öffnete er es vollständig, kroch in die kleine Höhle und zog das Gitter hinter sich wieder zu. Diese instinktive Bewegung rettete ihm das Leben. Binnen weniger Minuten war die Einstiegsluke bis obenhin voll mit herabgestürzten Menschen, und er wäre ganz zuunterst unweigerlich zerquetscht worden. Die Körper der Fallenden wurden so zusammengepresst, dass die Tausenden, die über sie hinwegliefen, nicht spürten, dass sie über menschliche Leiber liefen. Durch das Gitter drangen Schreie.
Oben riss eine schreckliche unsichtbare Welle indessen alle mit sich, zerschmetterte Menschen an Hauswänden, Mauern, an LKW und Bussen. Ein Durchgang war geöffnet worden, der in ein geschlossenes Häuserviertel führte, doch die Menschen glaubten, endlich herauszukommen, irgendwohin, wo diese knochenzermalmende Presse endete. Doch das sah Ilja nicht mehr. Er sah überhaupt nichts. Es herrschte absolute Dunkelheit.
In dieser dunklen Höhle lag Ilja ziemlich lange, dann tastete er die Wände ab. Er entdeckte ein großes Rohr, das sich leicht abwärts neigte. An ihm kroch er entlang. Dann machte das Rohr eine Biegung, und nun schien es aufwärts zu gehen. Den Fotoapparat hatte Ilja in seine Mütze gewickelt und unter den Gürtel gesteckt. Irgendwann nickte er kurz ein, und als er von bitterer Kälte erwachte, begriff er nicht gleich, wie er in dieses Loch geraten war. Er hob den Kopf und erblickte zwei Meter über sich ein recht großes viereckiges Gitter. Zwar schien von oben nicht direkt Licht herein, doch die Dunkelheit war dort nicht ganz so dicht. Ilja hatte großen Durst. Es roch widerlich, aber nicht nach Kanalisation, sondern nach rostigem Eisen und nach Ratten. Obwohl er keine Ratten gesehen hatte. Wahrscheinlich strömten auch sie in hellen Scharen zum Säulensaal.
Er musste hier raus. In die Wände waren dicke Bügel eingeschlagen, und er kletterte hinauf. Das ging mühelos, aber das Gitter war fest mit dem Rahmen verschweißt, und Ilja kam nicht hinaus. Er kletterte wieder hinunter, rollte sich zusammen und schlief erneut ein. Als er aufwachte, drang von oben mehr Licht herein. Er kroch weiter am Rohr entlang, es wurde immer breiter.
Das nächste Gitter entdeckte er nach rund fünfzig Metern. Er fand sofort die Eisenbügel und kletterte hinauf. Das Gitter war nicht angeschweißt, sondern saß recht locker, war aber von außen abgeschlossen. Ilja kroch weiter. Etwa alle fünfzig Meter tauchte ein Gitter auf. Er passierte acht davon, untersuchte jedes einzelne, fast alle waren festgeschweißt, zwei von außen abgeschlossen. Dann hörte er auf zu zählen. Mehrmals schlief er vor Erschöpfung ein, wachte wieder auf und kroch weiter. Drei oder vier Gitter hintereinander endeten unter den Füßen der Menge, von dort drang kein Licht herunter, nur ein schreckliches Dröhnen, das ihm sagte, dass er hier gar nicht erst versuchen sollte hinauszuklettern. Ein Gitter war halb herausgeschlagen, und in der Lücke hing ein halber toter Mensch.
Ilja hatte keine Ahnung, in welche Richtung er sich bewegte, wusste aber genau, dass die Rohre der einzig mögliche Weg waren und dass er vorwärts musste, obwohl er nicht wusste, wohin sie ihn führen würden.
Wieviel Zeit vergangen war, wusste er nicht. Dann entdeckte er ein Gitter, durch das helles gelbes Licht hereinfiel. Er stieg die wackligen Eisentritte hinauf, berührte das Gitter, und es ließ sich mühelos öffnen. Er kletterte hinaus und sah, dass er unter einer Laterne im Hof des Hauses stand, in dem Sanja Steklow wohnte. Er hatte gerade noch genug Kraft, um bis zu Sanjas Tür zu laufen und zu klingeln.
Anna Alexandrowna öffnete ihm.
Ilja fiel sofort um. Die Hände auf den Bauch gepresst, wo unter dem Gürtel der gerettete Fedja steckte.
Es war elf Uhr abends am 7. März. Anna Alexandrowna tat, was sie konnte: Sie zog Ilja aus, hievte ihn mit Hilfe eines Nachbarn in die Wanne und wartete, bis er die Augen aufmachte. Dann wusch sie ihn mit einem großen Bastwisch, wobei sie die blauen Flecke vorsichtig umging. Sein ganzer Körper war damit übersät, der
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