Das gruene Zelt
um Literatur.‹ Versteht ihr, was das heißt?«
»Was gibt’s daran nicht zu verstehen? Er wurde bespitzelt«, reagierte Ilja als erster.
»Ja, genau. Denn zu allen Zeiten gibt es Menschen, deren Gespräche sich ›größtenteils um die Literatur drehen‹. Wie uns!« Der Lehrer lachte. »Und solche wie Oberst Bibikow, die den Auftrag haben, sie zu beobachten. So sind die Zeiten …«
Er sagte anscheinend nichts Besonderes, wagte sich aber bis zum Äußersten vor. Er wusste seit langem, dass die Vergangenheit nicht besser war als die Gegenwart. Aber was hieß das schon? Man musste sich aus seiner Zeit befreien, sich von ihr lösen, durfte sich nicht von ihr verschlingen lassen.
»Die Literatur ist das Einzige, was dem Menschen hilft, zu überleben, sich mit seiner Zeit zu versöhnen«, belehrte Viktor Juljewitsch seine Zöglinge.
Alle stimmten ihm gern zu.
Nur Sanja hatte leise Zweifel: Und die Musik?
Wenn er Mozart oder Chopin hörte, ahnte er, dass es außer der Literatur noch eine ganz andere Dimension gab, wohin ihn seine Großmutter, Lisa oder seine Hauslehrerin Jewgenija Danilowna begleiteten. Dorthin war er täglich der Schulzeit entflohen, solange seine Hand noch unversehrt war. Doch auch jetzt, mit seinen gekrümmten Fingern, blieb er dieser Welt treu – er hörte ständig Musik, klimperte auch selbst ein wenig. Nichts Großes, wie auch, ohne die beiden Finger? Da machte er sich keine Illusionen.
Für Micha waren die literarischen Ausflüge eine Flucht vor der bedrückenden Tante Genja und ihrem kleinkarierten Dasein und zugleich ein Flug in himmlische Gefilde, wo edle Männer und schöne Damen lebten.
Es sollten noch anderthalb Jahrzehnte vergehen, bis ein mutierter Nachkomme von Oberst Bibikow, ein Oberst Tschibikow (der unsterbliche Gogol hätte seine helle Freude an derartigen Namensähnlichkeiten), auf dieses kindliche Archiv stößt, und weitere fünfzig Jahre, bis das Institut für Mittel- und Osteuropa einer kleinen deutschen Universität mit einem Märchennamen dieses Archiv unter einer siebenstelligen Nummer mit Schrägstrich in der Mitte registriert, und zwar auf Betreiben eines Mitglieds der Ljurssy, ebenfalls eines Schülers von Viktor Juljewitsch, allerdings ein Jahr jünger als Ilja.
Der Umgang mit seinen Moskauer Schülern ließ Viktor Juljewitsch zu seinen Gedanken über die Kindheit zurückkehren, die ihn schon nach den Erfahrungen in der Dorfschule beschäftigt hatten. Er hatte das Bedürfnis, mehr darüber zu erfahren, und vertiefte sich in die Lektüre wissenschaftlicher Bücher.
Er beschaffte sich aus der offiziellen Lehre verbannte Werke zur Psychologie der Kindheit, von Freud, der vergessen in den Bibliotheksregalen stand, bis zu Wygotski, der aus den Regalen entfernt und ins »Sonderarchiv« verbannt worden war. Dessen Bücher fand er fast vollständig bei einer ehemaligen Kommilitonin, deren Großmutter im Zuge der Verfolgung der »Pädologie« entlassen worden war, dann Pullover stricken gelernt hatte und davon lebte, die Werke Wygotskis aber wie einen Schatz aufbewahrte und nur Auserwählten zum Lesen gab, und auch das nur bei sich zu Hause. Viktor Juljewitsch kam sonntags morgens und blieb bis zum Abend, wobei einige Moskauer Teepausen die Lektüre unterbrachen.
Er fand das alles sehr interessant, aber ein wenig zu »gelehrt«. Altbekannte Tatsachen – dass Jungen in der Pubertät den Respekt vor den Eltern verlieren, reizbar werden, sich häufig streiten, eine starke sexuelle Neugier entwickeln, und das alles wegen des gewaltigen Hormonsturms im Körper – wurden als Entdeckungen präsentiert, und die Erklärungen des Autors empfand Viktor Juljewitsch mitunter als spekulativ und wenig beweiskräftig.
Wonach er suchte, das fand er nicht. Tolstoi, der diese qualvolle Zeit die »Wüste der Jugend« genannt hatte, kam dem noch am nächsten, was Viktor bei seinen aufgedrehten, aufsässigen Zöglingen beobachtete. Zu einem bestimmten Zeitpunkt schienen sie alles zu verlieren, was sie bis dahin erworben hatten, und ihr Leben neu zu beginnen. Und offenbar fanden nicht alle aus dieser Wüste heraus, ein großer Teil blieb für immer darin stecken.
Viktors nahezu einziger Gesprächspartner war Mischa Kolesnik, der Kindheitsfreund und Kriegsinvalide, Biologe und kühn denkende Hausphilosoph. Er hörte aufmerksam zu, ertrug aber keine Langsamkeit, unterbrach Viktor darum oft, knurrte »weiter, weiter, das hab ich kapiert«, trieb seinen Freund an und machte seltsame,
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