Das gruene Zelt
ließ der Druck plötzlich nach – die von allen Seiten zusammengepresste Menge war in Bewegung geraten und losgelaufen. Irgendwo waren seitliche Durchgänge geöffnet worden, und dorthin strebten die Menschen. Niemand hat je herausgefunden, wer diese Mausefallen regulierte, wer verantwortlich war für die Sperrungen und die Öffnung von Seitengassen, in denen sich die Leute drängten, bis sie schließlich durch Höfe und Durchgänge hinaus- und hineinströmten wie Wasser, das durch alle Ritzen dringt.
Mächtige Studebakers blockierten die Straßen, es wimmelte von Militär und Miliz, und Ilja, den Fotoapparat an den Bauch gepresst, schlüpfte zwischen den Autos hindurch, kroch unter eines, tauchte wieder auf und stieß mit dem Borja Rachmanow aus der achten Klasse zusammen. Borja wollte sich zum Säulensaal durchkämpfen. Ilja dagegen interessierte an dem ganzen Durcheinander vor allem das Durcheinander selbst.
Während der alljährlichen Demonstrationen am 1. Mai und am 7. November sah es im Stadtzentrum ähnlich aus: Marschkolonnen, Absperrungen, blockierte Straßen. Die Jungen, die hier wohnten, kannten dieses Feiertagschaos längst und stürzten sich immer mitten hinein. Doch diesmal war etwas wahrhaft Gewaltiges im Gange. Ilja suchte nach einem Platz möglichst hoch über der Menge, um wenigstens ein Foto zu machen. Er schlug Borja vor, mit ihm auf ein Dach zu klettern, das sie kannten, doch der lehnte ab.
Dummkopf, dachte Ilja, ich komme über die Dächer viel schneller zum Säulensaal als er.
Er wollte sich durch die Krapiwenski-Gasse schlagen. Doch in diesem Augenblick ging ein Ruck durch die Menge, Ilja wurde seitlich in Richtung Neglinka geschwemmt, Borja in die andere Richtung. Er tauchte kurz noch ein letztes Mal auf, Ilja sah sein rotes Gesicht, seinen offenen Mund. Borja rief etwas, aber Ilja hörte es nicht. Es herrschte ein seltsames Dröhnen aus Geheul, Schreien und einer Art Gesang, und zum ersten Mal in diesen zwei Tagen wurde Ilja unheimlich zumute.
Er musste zu einem bestimmten Torbogen gelangen, dort gab es auf dem Hof einen Schuppen, von dessen Dach man mühelos auf das Dach des benachbarten dreistöckigen Hauses klettern konnte. Ilja wollte sich in Richtung Torbogen durchdrängen und begriff, dass die Menschen versuchten, im Strom zu bleiben und sich möglichst von den Häusern fernzuhalten, aus Angst, gegen die O-Busse gedrückt zu werden, die dicht an dicht standen. Die Menschen prallten gegen die Busse, einige lagen reglos da, zerdrückt oder gegen Busflanken gepresst, andere trampelten über sie hinweg. Um auf den Bürgersteig zu gelangen, musste Ilja über die Leiber hinwegsteigen – waren sie etwa tot? Das konnte nicht sein … Aber es gab keinen anderen Weg. Er musste sich unter den Schutz eines Busses retten, sonst würde er zerquetscht. Die ganze Zeit dachte er an seinen Fedja, wie er den Fotoapparat zärtlich nannte, daran, dass das Objektiv nicht zerdrückt werden durfte. Mit den Füßen kämpfte er sich einen winzigen Raum neben einem Rad frei und schlüpfte unter den Bus. Dort herrschte Dunkelheit, und es war schrecklich eng, überall lagen ineinander verschlungene Leiber in dicker Kleidung, und Ilja robbte in dem feuchten Gestank zwischen ihnen hindurch. Jemand stöhnte. Ilja kroch unter dem Bus hervor und lief einem dicken Soldaten mit bebendem nassem Gesicht in die Arme. An dem Soldaten hing ein etwa fünfjähriger Junge, bleich und leblos.
»Wo willst du hin?«
»Ich wohne in dem Haus da.«
»Dann ab nach Hause und dringeblieben.«
Der Soldat schob ihn zum Torbogen, und Ilja schlüpfte auf den Hof. Der Schuppen war noch da, und dicht an der Wand stand eine Bretterkiste für Müll. Ilja kletterte hinauf, dann aufs Schuppendach, und an der Hauswand – er war im vorletzten Jahr schon einmal hier gewesen, im Sommer, als er zum letzten Mal Räuber und Gendarm spielte – gab es bequeme Mauervorsprünge, über die man mühelos auf das Dach des »bunten Hauses« aus roten und weißen Ziegeln gelangen konnte, wenn das Flurfenster im zweiten Stock noch immer kaputt war.
Ilja hatte an diesem Tag unglaubliches Glück – er war lebendig aus der todbringenden Menge entkommen, und auch das Fenster war noch immer kaputt.
Er erlebte noch einen Schreckmoment, als er sich am Fensterrahmen hochzog, der plötzlich nachgab und herauszufallen drohte. Doch er hielt, und Ilja sprang glücklich von dem breiten Fensterbrett ins Haus. Drinnen erwartete ihn allerdings eine
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