Das gruene Zelt
er vermutet hatte, unzureichend gewesen. Aber andere Fotos, bis auf die offiziellen mit dem Sarg im Säulensaal, die in den Zeitungen veröffentlich wurden, gab es nicht.
Die Ljurssy
Jeden Mittwoch führte Viktor Juljewitsch die Freunde der russischen Literatur, die Ljurssy, durch Moskau; er blies in seine Flöte und lockte sie heraus aus ihrer ärmlichen, kranken Zeit, in einen Raum aktiven Denkens, der Freiheit, der Musik und der Künste. Ja, das alles hatte hier existiert! Hinter diesen Fenstern!
Die Spaziergänge durch das literarische Moskau waren wunderbar chaotisch. In der einstigen Gendrikow-Gasse gingen sie auf den Hof des Hauses, in dem sich, wie man irrtümlich annahm, Majakowski erschossen haben sollte, und dann die Dsershinski-Straße, die frühere Lubjanka, hinunter zum Sretenka-Platz. Die Umbenennung der Moskauer Straßen empfand Viktor Juljewitsch als Beleidigung für seine Ohren, er nannte den Jungen stets die alten Namen.
Über die Boulevards liefen sie bis zum Puschkinplatz, wo der Lehrer ihnen das Haus von Famussow zeigte, und suchten die Puschkin-Orte auf: die Häuser von Wjasemski und Nastschokin, das Haus, in dem die Tanzklassen des berühmten Tanzlehrers Pjotr Iogel stattgefunden hatten. Hier war Puschkin der jungen Natalja zum ersten Mal begegnet.
»Der Twerskoi ist der älteste Boulevard der Stadt. Es gab Zeiten, da hieß er einfach nur Boulevard, weil er der einzige war. Wir sprechen vom Boulevardring, aber in Wirklichkeit ist es gar kein ganzer Ring, sondern nur ein halber. Er endet am Fluss. Alle Boulevards folgen dem Verlauf der einstigen Steinmauer der Weißen Stadt.«
Vom Puschkinplatz aus wählten sie jedes Mal eine neue Route. Mal durch die Bogoslowski- zur Trjochprudny-Gasse, zu dem Haus, in dem Marina Zwetajewa ihre Kindheit verbracht hatte und an dem Jahrzehnte später eine Gedenktafel hängen sollte, oder sie liefen durch die Twerskaja und Nikitskaja zum Arbat, überquerten die Malaja Moltschanowka auf Höhe des Hauses von Lermontow und gelangten über den Sobatschja-Platz zum letzten Wohnhaus von Skrjabin. Hier hatte er gespielt, und es lebten noch Menschen, die seine Hauskonzerte besucht hatten. Die Schüler stellten Fragen. Die Namen blieben im Gedächtnis haften. Sie spazierten ohne konkreten Plan durch die Stadt, und nichts war schöner als diese Streifzüge.
Viktor Juljewitsch verbrachte wegen dieser Exkursionen viel Zeit in Bibliotheken, wälzte alte Bücher und suchte nach Raritäten. In der Historischen Bibliothek entdeckte er haufenweise handschriftliche Memoiren, Alben und Briefe. Manches davon war, den Karteikarten nach zu urteilen, noch nie ausgeliehen worden. Er erfuhr viel Wertvolles und Überraschendes. Es verblüffte ihn, dass viele, ja fast alle wichtigen Persönlichkeiten des neunzehnten Jahrhunderts miteinander verwandt waren und zu wenigen eng miteinander verwobenen Familienclans gehörten; ihre ganze Welt schien eine einzige weitverzweigte Familie zu sein. In Briefen, die vor der Revolution veröffentlicht worden waren, stieß er ständig auf Zeugnisse dieser erstaunlichen Wechselbeziehungen; all diese Verbindungen samt Familienstreitigkeiten, Skandalen und Mesalliancen hatte Tolstoi in seinen Romanen zu etwas verarbeitet, das größer war als eine Familienchronik. Eine russische Bibel, dachte Viktor Juljewitsch.
Wie Gulliver im Land der Riesen war er mit jedem einzelnen Haar an den Boden der russischen Kultur gefesselt, und diese Fäden reichten von ihm weiter bis zu seinen Schülern, die langsam auf den Geschmack kamen, sich an diese staubige, ephemere Papiernahrung gewöhnten.
Als er mit seinen Schülern die Gorkistraße hinunterging, vorbei am besten Lebensmittelgeschäft der Stadt, dem Jelissejewski, erzählte er ihnen von Sinaïda Wolkonskaja, der dieses Haus bis zu dessen Umbau gehört hatte.
»Hier war ein in ganz Moskau berühmter literarischer Salon, die ganze Moskauer Gesellschaft fand sich dort ein. Eingeladen wurden Schriftsteller, Maler, Musiker, Professoren. Auch Puschkin war mehrfach Gast. Vor kurzem habe ich in der Bibliothek ein interessantes Dokument gefunden, nämlich den Bericht eines Oberst Bibikow aus dem Jahr 1826, in dem schwarz auf weiß stand: ›Ich verfolge den Schriftsteller P., so gut ich kann. Die Häuser, die er am häufigsten besucht, sind die der Fürstin Sinaïda Wolkonskaja, des Fürsten Wjasemski, des ehemaligen Ministers Dmitrijew und des Staatsanwalts Shicharjow. Die Gespräche dort drehen sich größtenteils
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