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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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selbst, von seiner Grausamkeit und Unmenschlichkeit –, nach all dem verspürte sie damals in Wologda zum ersten Mal eine neue, schmerzhafte Liebe zu dem kargen, demütigen Norden, aus dem ihr Vater stammte, und es schnürte ihr die Kehle zu, als die spät untergehende Sonne in den großen See sank, der glutrote Himmel sich allmählich silbrig färbte und alles rundum silbern wurde – die Felder, das Wasser, die Luft. Auch dieser grünsilberne Farbton war eine Entdeckung dieser Reise – Ilja hatte ihn als erster bemerkt und sie darauf aufmerksam gemacht.
    Der General war im Laufe dieser Jahre gänzlich in seine Werkstatt gezogen, die er kaum verließ. Olgas Mutter fürchtete um ihre Stelle, aber niemand warf sie aus der Zeitschriftenredaktion – sie war ein ziemlich hohes Tier in der Parteiorganisation des Schriftstellerverbands.
    Als Kostja zur Schule kam, zogen Olga und Ilja in die Moskauer Wohnung, Antonina Naumowna hingegen übernachtete immer öfter auf der Datscha – ihr personengebundener Dienstwagen fuhr nun fast täglich zweimal hin und zurück.
    Im zehnten Jahr bekam die Ehe einen Knacks.
    Ilja wurde nervös und unausgeglichen; seine wunderbare fröhliche Verspieltheit war anhaltender Düsterkeit gewichen. Anfang 1980 verkündete er Olga, sie müssten emigrieren. Darüber gesprochen hatten sie seit langem, aber mehr allgemein. Doch nun hatte es Ilja auf einmal furchtbar eilig.
    »Ich werde eine Genehmigung für die ganze Familie beantragen. Wenn du nicht mitwillst, müssen wir uns scheiden lassen.«
    »Ich will ja mit, ich will. Aber überleg doch mal selbst. Wowa lässt Kostja auf keinen Fall raus. Schon allein, um mich zu ärgern. Wenn Kostja achtzehn ist, brauchen wir Wowas Einwilligung nicht mehr.« Olga fand, dass sich Ilja unnötig aufregte. Sie waren vor zehn Jahren nicht emigriert, warum jetzt plötzlich diese Panik?
    Ilja bestand darauf, trieb zur Eile. Olga traf sich mit ihrem Exmann. Vollkommen vergebens. Wowa erwies sich als bösartig und verbohrt. Erstaunlich, was für ein fühlloser Klotz aus ihm geworden war. Er verweigerte seine Einwilligung kategorisch, endgültig, und beschimpfte Olga obendrein.
    Olga flehte Ilja an, noch ein Jahr zu warten. Aber er war wie im Fieber: Raus hier, nur schnell raus. Er war tatsächlich sehr nervös. Um seinen Namen rankten sich ungute Gerüchte, und er fürchtete, sie könnten auch Olga zu Ohren kommen. Eines Tages erklärte er schroff, ohne weitere Erörterungen, wenn Olga Kostjas wegen nicht mitkommen könne, müssten sie eben rasch die Scheidung einreichen.
    Das war für Olga eine Katastrophe, aber eine irgendwie seltsame, unnötige … Sie verstand wirklich nicht, warum Ilja es so eilig hatte. Sie könnten doch noch ein Jahr warten und dann zusammen mit Kostja … Viele Freunde waren schon emigriert, in alle Richtungen. Sie könnten doch ganz in Ruhe …
    Irgendwann kamen sie nicht weiter – sie reichten die Scheidung ein. Und erlebten so etwas wie zweite Flitterwochen. Das Warten auf die Trennung – ein Jahr, zwei? – verlieh ihrer Beziehung neue Schärfe, Süße und Bitterkeit, selbst auf Kostja übertrugen sich diese gemischten Gefühle. Der Junge war zwar in einem Alter, in dem einem eigentlich alles fremd ist, aber auch er hing wie eine Klette an Ilja und störte ständig ihre Zweisamkeit.
    Ihre Liebe flammte in dieser extremen Situation so heftig auf, dass in ihrem nächtlichen Feuer die letzten Grenzen fielen und sie einander schreckliche Geständnisse machten, Schwüre und unerfüllbare Gelübde leisteten, als wären sie nicht vierzig Jahre alt, sondern fünfzehn. Sie schworen, sollten irgendwelche Hindernisse auftauchen, würden sie den Rest ihres Lebens daransetzen, wieder vereint zu werden.
    Der Ausreisemechanismus war in Gang gesetzt. Das Verfahren endete ungewöhnlich rasch: Zwei Wochen nachdem Ilja seine Papiere eingereicht hatte, bekam er die Genehmigung. Er wählte die übliche Route: erst Wien, dann war alles offen. Sein geplantes Ziel war Amerika. Das war ziemlich weit weg.
    Abschied feierten sie in der Wohnung von Freunden – die Moskauer Generalswohnung kam aus vielen Gründen nicht in Frage.
    Es war ein lautes Fest mit ständigen Stimmungsumschwüngen, ein bisschen wie Beerdigung, ein bisschen wie Geburtstag. Gewissermaßen war es ja auch beides.
    In Scheremetjewo, in der Menge der nervösen, schwitzenden, mit Kindern, Greisen und reichlich Gepäck beladenen Menschen, die das Land für immer verließen, fiel Ilja durch seine

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