Das gruene Zelt
sie kümmerte:
»Hast du die Blumen auf dem Foto gesehen? Ein riesiger Strauß, nicht?«
Ein Teil des Magens war entfernt worden, doch die blutende Wunde in ihrem Herzen konnten die Ärzte nicht heilen.
Olga verlangte nun von jedermann, dass er sich in dem Konflikt auf ihre Seite stellte. Dabei gab es eigentlich keine andere Seite – ihr geschiedener und emigrierter Mann hatte am anderen Ende der Welt eine Unbekannte geheiratet. Und die Versprechen, die Gelübde und Schwüre ewiger Liebe – das war keine Seite des Konflikts, das waren nur Worte …
Ihr Sohn Kostja war indessen kurz davor, seiner Mutter einen weiteren Schlag zu versetzen: Er hatte sich in ein Mädchen verliebt, mit dem er die Aufnahmeprüfung am Institut gemacht hatte, unsterblich verliebt, fürs ganze restliche Leben. Unglaublich, zugleich aber auch banal: Noch heute leben Kostja und Lena mit ihren inzwischen erwachsenen Kindern in der Generalswohnung.
Olga erwartete von Kostja Mitleid und Mitgefühl. Kostja, der Mensch, der ihr am nächsten stand, verweigerte ihr dieses Mitgefühl kategorisch und wollte zudem nicht Partei ergreifen. Er liebte seine Mutter, aber er liebte auch Ilja und mochte die ständigen Anschuldigungen seiner Mutter gegen seinen Stiefvater nicht hören. Olga war deshalb tödlich beleidigt. Einmal packte sie mit zwei Fingern Kostjas schwarzen Baumwollpulli an der Schulter und zischte:
»Von Ilja, der Pulli? Du bist ja billig zu haben.«
Ilja schickte hin und wieder Päckchen an Kostja. Außer Kleidungsstücken für Kostja enthielten sie auch Dinge »für den Haushalt«, die stillschweigend für Olga gedacht waren. Olga reichte die exotischen Büchsenöffner, die Wachstuchtischdecken mit Schottenkaro und den sonstigen billigen Plunder angewidert an ihre Mutter weiter.
Antonina Naumowna liebte jedweden ausländischen Haushaltskram, stellte aber immer klar:
»Bei uns in Russland sind alle Kraft und aller Geist der Wissenschaftler auf die Entwicklung von Weltraumraketen und Atomkraftwerken gerichtet, die im Westen kümmern sich stattdessen um Büchsenöffner. Nun ja, die Büchsenöffner sind gut, da will ich nichts sagen.«
Sie war in dieser ganzen Geschichte der einzige glückliche Mensch. Sie triumphierte. Olga konnte ihre Mutter nicht ansehen – in ihr brannte Hass.
Kostja hielt sich raus, er wollte kein böses Wort über Ilja hören. Und schon gar nicht über ausländische Büchsenöffner. Er war mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt – seine heißgeliebte Lena war im dritten Monat schwanger, und er konnte den Blick nicht von ihr wenden. Er offenbarte die gleiche Liebesfähigkeit wie Olga.
Olga sammelte ein Dossier gegen Ilja; sie wollte nun im Nachhinein Beweise dafür auftreiben, dass ihr Mann in jeder Hinsicht schlecht war. Sie nahm wieder Kontakt zu ihrer bescheidenen Schwiegermutter auf, für die sie sich früher nie sonderlich interessiert hatte, zu Iljas Cousinen, zu seinen Jugendfreunden und zu allen, die in seinem alten Adressbuch standen. Sie erfuhr, dass Ilja in der siebten Klasse beinahe von der Schule geflogen wäre, weil er im Fotozirkel im Haus der Pioniere ein Objektiv gestohlen hatte, und deshalb sogar bei der Miliz registriert worden war.
Außerdem war er einmal wegen Urkundenfälschung erwischt worden – nichts Großes, nur ein Leserausweis für die Historische Bibliothek. Aber ungehörig war es doch, oder? Auch über Iljas erste Familie war sie nun im Bilde: Das Kind, das er verlassen hatte, war behindert, und er hatte seine erste Familie nie unterstützt. Seine erste Frau war still und ein wenig dumm, aber in all den Jahren ihres Zusammenlebens hatte sie Ilja ernährt.
»Ja, ja, natürlich!« Olga freute sich fast, als mehr oder weniger fremde Leute ihr all diese Scheußlichkeiten erzählten. Ihr gegenüber hatte er sich schließlich auch wie ein Schmarotzer benommen: Sie hatte unermüdlich gearbeitet und nicht wenig Geld verdient, und er hatte in der Bibliothek gesessen oder fotografiert, war Fahrrad gefahren oder gereist, und alles auf ihre Kosten! Zwar hatte er mit den Büchern und dem Fotografieren auch Geld verdient, ihr aber nie auch nur eine Kopeke für den Haushalt gelassen; seinen gesamten Verdienst hatte er für sein Vergnügen ausgegeben. Und das hatte nichts mit der Sowjetmacht zu tun, das war einfach seine parasitäre Lebensweise!
Ihre Freundin Tamara merkte als erste, dass Olga verrückt wurde. Als wäre ein guter, großzügiger Mensch plötzlich von einem Dämon besessen.
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