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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Haushalte – Afanassi Michailowitsch mit seinen Rationen vom Erholungsheim nach seinem üblichen Tagesplan: um sieben Aufstehen, abends um acht Tee, um elf ins Bett. In Olgas Familie gab es keine festen Regeln. Manchmal kochten sie sich eine Kleinigkeit, aber meist lebten sie von Broten, den ganzen Tag klappte die Kühlschranktür, sie standen zu Unzeiten auf und legten sich zu Unzeiten schlafen, mitten in der Nacht gingen sie spazieren oder tranken Tee, sie lachten laut und klapperten fast bis zum Morgen auf der Schreibmaschine. Auch arbeiten gingen sie nicht wie normale Menschen, mal fuhren sie morgens los, mal mitten am Tag. Olga fuhr um vier zu ihrem Sprachkurs und kam mit dem letzten Bus zurück. Er holte sie ab. Manchmal mit Kostja. Mitten in der Nacht, bei Frost – warum schleppte er da das Kind mit?
    Aber sie ließen Kostja nie allein, sie fuhren immer abwechselnd weg. Wenn sie über Nacht wegbleiben wollten, holten sie Faina Iwanowna. In zwei Monaten baten sie nur ein einziges Mal Afanassi Michailowitsch, auf Kostja aufzupassen. Er nahm den Jungen mit in seine Werkstatt, und der half ihm den ganzen Tag. Sehr verständig.
    Sonnabends kam Antonina Naumowna mit dem grauen Wolga – mit einer Torte und Lebensmitteln. Sie arrangierte ein sonntägliches Familienessen. Der neue Bräutigam ging ihr lange Zeit aus dem Weg – zum Wochenende fuhr er immer weg. Erst Anfang April trafen sie aufeinander. Antonina Naumownas Voreingenommenheit bestätigte sich: Er gefiel ihr nicht. Was hätte ihr an ihm auch gefallen sollen? Höchstens die Locken. Aber ansonsten – mageres Gesicht, die Haut eng darübergespannt, eine Nase wie ein Krähenschnabel und fleischige Lippen, so rot, als hätte er Fieber. Ein ungefüger Kerl: schmale Schultern, dürre Beine, in der Mitte brach er fast durch, enge Hosen, vorn mächtig ausgebeult, war wohl viel drin. Aber ansonsten – ein Mickerling! Pfui Teufel!
    Antonina Naumowna nickte und sagte mit eingekniffenen Lippen:
    »Nun, machen wir uns bekannt – Antonina Naumowna.«
    »Ilja.«
    »Und mit Vatersnamen?«
    »Ilja Issajewitsch Brjanski«, sagte er betont.
    Brjanski, gut und schön, überlegte Antonina Naumowna, die sich mit Kaderfragen auskannte, aber Issajewitsch! Die Namen von Propheten waren nur bei Popen und Juden üblich … und bei den Altgläubigen. Das wusste sie sehr gut, sie musste sich ihr Leben lang rechtfertigen.
    Was wollte das Mädchen bloß? Dass sie ihren Wowa, einen so prächtigen Jungen und guten Ehemann, gegen diese schlaksige Bohnenstange tauschte. Und Kostja, wie ärgerlich, wandte kein Auge von ihm, kletterte auf ihm herum wie auf einem dünnen Baum.
    Am Tisch begann die junge Familie zu kichern. Antonina Naumowna beobachtete, wie Ilja ein Brotkügelchen in Kostjas Teller warf und der ihm wie aus Versehen eine Prise Salz in den seinen streute. Und Olga sitzt da, lächelt wie blöde und kneift die Augen zusammen … Von der Torte hat der liebe Bräutigam zwei Stücke vertilgt. Hat die Creme runtergeleckt wie eine Katze. Und auch noch Kostjas Rest aufgegessen. Ein Süßmaul. Und den Löffel hat er abgeleckt. Widerlich! Nein, Afanassi hätte sie nicht hier wohnen lassen sollen. Hätten sie sich eben selber was suchen müssen. Es wird ihnen alles viel zu leicht gemacht. Eine trockene Träne trübte Antoninas Auge …
    Olgas arme Eltern hatten keine Ahnung, was der mickrige Bräutigam trieb, was er da nächtens auf der Maschine tippte und wohin er eilte, wenn er die luxuriöse Datscha verließ. Olga wusste das alles, denn sie tippte die antisowjetischen Schriften auf dünnem Durchschlagpapier ab. Größere Texte übernahm sie allerdings noch nicht, sie war nicht schnell und nicht qualifiziert genug. Sie tippte Gedichte ab, vor allem Ossip Mandelstam und Joseph Brodsky – das betrachtete sie als ihre gesellschaftliche Arbeit –, dickere Bücher aber wurden an Geübtere gegeben, auch gegen Bezahlung, an Olgas Schulfreundin Galja Poluchina oder an die Stenotypistin Vera Leonidowna.
    Ilja brachte die Seiten manchmal zum Binden zu seinem Freund Artur, manchmal verteilte er sie einfach so, lose. Artur fertigte wunderschöne Lyriksammlungen im Batisteinband. Bücher mit religiösem Inhalt band er in entsprechend solides Material wie Kunstleder oder Kaliko. Aber der Umgang mit ihm war nicht einfach – oft vergaß er Termine und Absprachen. Ilja verdiente mit dem Samisdat Geld. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gutenbergs seiner Zeit litt er nicht an der übertriebenen

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