Das gruene Zelt
Tugendhaftigkeit vieler Intellektueller, er verlangte für seinen Zeitaufwand einen anständigen Lohn, den er auf würdige Weise für seine fotografischen Hobbys und Sammlungen verwendete.
Die vielen Gedichte! So viele Gedichte! Eine solche Zeit gab es in Russland weder zuvor noch danach jemals wieder. Die Gedichte füllten den luftleeren Raum, sie wurden selbst zu Luft. Vielleicht, wie ein Dichter es ausdrückte, zu »gestohlener Luft«. Die höchste Anerkennung für einen Dichter war nicht der Nobelpreis, nein, das waren diese raschelnden, mit der Maschine oder per Hand abgeschriebenen Seiten mit Schreib- und Tippfehlern, kaum zu entziffern: Zwetajewa, Achmatowa, Mandelstam, Pasternak und schließlich Brodsky.
»Unseren Literaturlehrer Viktor Juljewitsch Schengeli, den musst du unbedingt kennenlernen. Der wird dir gefallen! Allerdings unterrichtet er schon lange nicht mehr. Er hat einen Job in einem Museum. Seine Devise: Hauptsache, nicht auffallen.«
Die Sowjetmacht verfolgte Arbeitslose, wobei sie auch jene dazurechnete, denen sie selbst die Arbeit verwehrte. Der Asoziale Joseph Brodsky war bereits zurück aus seinem Verbannungsort, dem Dorf Norenskaja, doch nichts hätte auch nur im entferntesten darauf schließen lassen, dass man dem einstigen Verbannten fünfzig Jahre später in der örtlichen Bibliothek einen eigenen Raum widmen und ein farbloses spätes Mädchen Exkursionen unter dem Titel »Brodsky in Norenskaja« anbieten würde.
Olga wurde, erst zögerlich, dann immer sicherer, zur Übersetzerin. Französisch konnte sie vom Studium her, zum Spanischen, das sie beim Sprachkurs gelernt hatte, kam das Italienische, das sie sich mühelos ganz nebenbei auf den Bahnfahrten von der Datscha in die Stadt und zurück angeeignet hatte. Sie knüpfte Kontakte, wurde ab und zu engagiert, um Filme simultan zu übersetzen, was sie mühelos bewältigte, und verdiente auch anderweitig etwas nebenher, mit dem Übersetzen von Patenten und der Arbeit für Referateblätter. Anfangs verdiente sie wenig, dann recht gut. Doch das alles war inoffiziell, offiziell war sie nun, genau wie Ilja, als Sekretärin angestellt. Diesen Schutzschild benutzten viele.
Nach dem Tod von Iljas ehemaligem Schwiegervater hatte sich ein weiterer Mann gefunden, der Ilja als Sekretär beschäftigte und auch Olga zu der Stelle bei einem alten Professor verhalf. Ilja und Olga gehörten formal zu einer ominösen Gewerkschaftsgruppe, die offenbar eigens zur Umgehung der Sowjetmacht geschaffen worden war.
Auf der Datscha richtete sich Ilja in einer Kammer neben dem Bad wieder ein Fotolabor ein. Wie zu seiner Schulzeit legte er Wasserleitungen von der Toilette in die Kammer und laborierte dort nächtens. Aber davon merkte Afanassi Michailowitsch nichts – er badete nur sonnabends, an anderen Tagen schenkte er dem Bad und der kleinen Kammer keinerlei Beachtung.
Wie glücklich waren diese gemeinsamen Jahre! Ilja ließ sich von seiner ersten Frau scheiden. Olga und er heirateten ohne besonderes Aufsehen, und Olga war ihm mit Leib und Seele ergeben. Alles, was er sagte und tat, war für sie spannend und neu: Der Samisdat, die Fotografie, die Reisen – er liebte den russischen Norden und den zentralasiatischen Süden, brach häufig kurzentschlossen auf und fuhr Gott weiß wohin. Manchmal nahm er Olga und Kostja mit.
Einmal fuhren sie ins Gebiet Wolodga, nach Belosersk und Ferapontowo, und Kostja behielt diese Reise als wahres Märchen in Erinnerung. Alles, was er dort erlebte, jeder Tag, jede Stunde blieb ihm im Gedächtnis wie ein Film, den er sich immer wieder anschauen konnte: Der Angelausflug mit dem Boot, die Übernachtung im Heu; wie sie in einem Kloster auf ein Baugerüst geklettert waren und er beinahe in den Abgrund gestürzt wäre, hätte Ilja ihn nicht gerade noch an der Jacke gepackt; und die schreckliche und komische Geschichte mit der Biene, die er sich mit einem Stück Kuchen in den Mund geschoben hatte – Ilja hatte ihm blitzschnell den Kuchen aus dem Mund genommen und ihm geschickt den Stachel aus der Lippe gezogen.
Olga erinnerte sich an andere Dinge: an die verrottenden Fresken von Dionysios, an das verfallende Kloster, an die träge, verschlafene Natur des Nordens, in der sie gleich beim ersten glimmenden, klaren Sonnenuntergang ihre wahre Heimat erkannt hatte.
Nach all den Enttäuschungen – von den elterlichen Idealen, von den Eltern selbst, vom System und von den Herrschenden des Landes, in dem sie geboren war, vom Land
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