Das gruene Zelt
Wenn Olga von Ilja sprach, änderten sich ihr Tonfall, ihre Stimme, ja, selbst ihr Vokabular. Die frühere Olga hatte solche Worte gar nicht gekannt. Tamara zögerte lange, bis sie der Freundin schließlich erklärte, dass sie gegen ihren Wahn ankämpfen müsse, denn wenn sie ihrer tobenden Eifersucht nicht Einhalt gebiete, werde sie in der Psychiatrie landen.
Aber Olga war redegewandt und vermochte alle zu überzeugen, dass ihr Verhalten nichts mit Krankheit und Eifersucht zu tun habe, sondern mit Wahrheit und Gerechtigkeit, und aus ihrem Mund klang das alles sehr logisch und schlüssig. Sie besaß eine ungewöhnliche Überzeugungskraft, der nur Kostja widerstand. Er weigerte sich nach wie vor, Ilja unmenschliche Gemeinheit vorzuwerfen.
Aber was war von Kostja noch zu erwarten? Er gehörte mit Haut und Haar einem zierlichen kleinen Mädchen mit Niednägeln. An Ausreise dachte er nicht, er hatte sein Leben hier, und das war übersichtlich und unkompliziert.
»Mama, wenn du willst, dann geh doch. Ohne mich.«
Einen großen Extrakrach hatte Olga mit ihrem Sohn, nachdem sie in seinem Schreibtisch einen Packen Briefe von Ilja entdeckt hatte, die er ihm nicht nach Hause, sondern postlagernd geschickt hatte. Die Post befand sich im selben Haus, im Erdgeschoss. Zuerst las sie die Briefe, gegen das Zittern ihrer Hände und Beine ankämpfend. Lange Briefe, großartig geschrieben – voll von Eindrücken eines Menschen, der zum ersten Mal die Sowjetunion verlassen hat. Der erste Wiener Brief an Kostja beschrieb etwa dasselbe wie sein erster Brief an sie: die Überwindung eines Trugbildes, das Misstrauen gegenüber der Wirklichkeit, die so ganz anders war als das, woran Augen, Nase und Geschmackssinn ein Leben lang gewöhnt waren. In einem anderen Brief, den er Kostja kurz vor seiner Abreise nach Amerika geschrieben hatte, las Olga einen Satz, der sie tief traf: »Das Überleben hier im Westen hängt unmittelbar von der Fähigkeit ab, sich vollkommen von allem loszusagen, was man dort, in Russland, erworben hat.« Nun zählte sie auch selbst zu den Dingen, von denen man sich um des Überlebens willen lossagen musste. Dann folgten Briefe aus New York, sie enthielten vieles, was er ihr geschrieben hatte – von der tragischen Unterschiedlichkeit der Kulturen, der russischen und der amerikanischen, wie »oberflächlich« die amerikanische Kultur sei, nicht im üblichen banalen Sinne, sondern ganz wörtlich: Sauber gewaschene menschliche Körper, Kleidung, die nach Waschpulver und chemischer Reinigung rieche, blitzsauberer Asphalt, und jede Verpackung, jede Hülle sei mindestens so wichtig wie ihr Inhalt. Dass er einmal einen ganzen Tag herumgelaufen sei auf der Suche nach einem geeigneten Motiv, bis er endlich in Harlem eine große Halde mit Bauschutt und ganz normalem menschlichem Müll gefunden habe, vor der ein lächelnder zahnloser Schwarzer in einem schneeweißen Hemd und mit einem Banjo in der Hand saß. Der letzte Brief aus Amerika war traurig und seltsam. Ilja schrieb dem noch blutjungen Kostja: »Nur eine vollkommene Häutung, eine ganz neue Oberfläche mit neuen Rezeptoren sichert das Überleben. Seltsamerweise betrifft das nicht das innere Wesen. Seine Gedanken, selbst die originellsten, die in keiner Weise zu diesem für mich wenig verständlichen Dasein passen, darf man behalten. Das interessiert niemanden. Aber um in diese Gesellschaft hineinzukommen, muss man die schlichten Rituale ihrer Kommunikation erfüllen. Das idiotische Ballett des westlichen Lebens. Ich bin dazu bereit, obgleich mich das zu einer Reihe schwerer Entschlüsse zwingt.«
Diese Briefe fand Olga entlarvend. Eine kurze Zeit meinte sie sogar, sie hätte die Trennung von Ilja leichter verkraftet, wenn er sich wirklich verliebt hätte, in eine kluge junge Schönheit. Doch sie korrigierte sich sogleich ehrlich: Nein, das wäre genauso schlimm gewesen. Schließlich war es egal, warum er sie verlassen hatte, wegen einer neuen Liebe oder aus Eigennutz. Das eine war so schlimm wie das andere. Auf den wahren Grund für seine Ausreise kam sie nicht. Aus Liebe, aus Vertrauen, aus seelischer Unschuld.
Olga warf Kostja Verrat vor, und obwohl sie spürte, wie ungerecht ihre Anschuldigungen gegen den Sohn waren, nahm sie ihm die Briefe weg. Kostja schwieg dazu.
Er bedauerte die Mutter, war aber nicht mit ihr einverstanden. Vor allem nicht damit, dass sie in seinem Schreibtisch gewühlt hatte, in dem außer den Briefen in einer hinteren Ecke auch
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