Das gruene Zelt
Gemütsruhe und das völlige Fehlen von Gepäck auf. Seine Büchersammlung hatte er über einen Freund bei der deutschen Botschaft per Diplomatenpost vorausgeschickt, ebenso die Negative des Fotoarchivs. Darüber war der KGB-Offizier Tschibikow wohl kaum informiert.
Vieles an dieser Geschichte bleibt unklar. Zum Beispiel, warum Tschibikow, zu der Zeit bereits General, Ilja bei der Ausreise half, welche Pläne er mit ihm hatte. Und ob Iljas Arbeit bei Radio Swoboda eine glückliche Flucht in die Freiheit war oder die Fortsetzung des zweideutigen Spiels, in das er bis zu seinem Tod verwickelt sein würde.
Das wird wohl nie jemand erfahren.
Ilja verschwand in einem schwarzen Loch zwischen zwei Kontrollposten. Vor seiner Brust baumelte ein Fotoapparat ohne Film – den hatte ein Grenzer herausgenommen und belichtet –, über seiner Schulter ein halbleerer Rucksack. Er enthielt Wäsche zum Wechseln und ein Englischlehrbuch, das er seit zwei Jahren ständig bei sich trug.
In der Nacht nach Iljas Abreise bekam Olga Blutungen und wurde mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Die Krankheit hatte natürlich weit früher angefangen, aber an diesem Tag machte sie sich zum ersten Mal bemerkbar.
Das erste Jahr ohne Ilja verging mit Briefeschreiben und Anfällen. Olga magerte schrecklich ab, verlor den Appetit und aß widerwillig dreimal am Tag je einen Löffel Haferbrei. Ihre alten Freundinnen rückten wieder näher zusammen, um sie gemeinsam zu bedauern. Auch Antonina Naumowna bedauerte Olga, und je mehr sie das tat, umso mehr hasste sie ihren Ex-Schwiegersohn.
Der war inzwischen bereits in Amerika, wo sich alles weit ungünstiger anließ als gedacht. Zudem machte der Deutsche, der Iljas seit der Schulzeit zusammengetragene Büchersammlung der russischen Avantgarde herausgeschmuggelt hatte, keine Anstalten, sie herauszugeben. Die Bücher waren laut Auktionslisten viel mehr wert, als Ilja geahnt hatte.
Briefe von Ilja kamen selten, waren aber hochinteressant. Olga lebte von einem Brief zum nächsten. Sie selbst schrieb Ilja viel, trotz der Unzuverlässigkeit der Post – nur etwa jeder zehnte Brief von ihr erreichte ihn.
Nach einem Jahr traf Olga ein harter Schlag. Von gemeinsamen Bekannten erfuhr sie, dass Ilja geheiratet hatte. Sie schrieb ihm einen wütenden Brief. Und erhielt eine zärtliche, reumütige Antwort: Ja, er habe geheiratet, der Mensch sei schwach, die Ehe sei praktisch fiktiv, er lebe nicht mit seiner Frau zusammen, denn sie wohne in Paris, doch Olga müsse ihn verstehen – hier in Amerika laufe es für ihn überhaupt nicht, er müsse es in Europa versuchen. Die Ehe mit einer russischen Französin verschaffe ihm diese Möglichkeit. Einen anderen Ausweg gebe es für ihn vorerst nicht.
Der Brief endete mit einem flüchtigen Blick in ihre gemeinsame Vergangenheit und in die Zukunft: Das alles ist nur für kurze Zeit, notgedrungen, unser Glück liegt noch vor uns … Und einem ebenso flüchtigen Vorwurf: Du hättest ja Kostja für ein Jahr alleinlassen können, wir hätten ihn nachgeholt …
Olga verspürte Eifersucht. Wer war diese Frau, woher kam sie? Über Bekannte erfuhr sie ihren Namen. Sie stammte aus Kiew, war mit einem Franzosen verheiratet gewesen, nun verwitwet und lebte seit vielen Jahren in Frankreich. Also nicht mehr jung. Das war alles an Informationen. Olga raffte sich auf und fuhr nach Kiew. Gemeinsame Bekannte fanden sich mehr als genug. Olga, eigentlich eine ehrliche Haut, log den Kiewern die Hucke voll, und die erzählten ihr bereitwillig alles. Eine einfältige Freundin von Iljas neuer Frau überließ Olga sogar ein Foto des Brautpaars: Eine ältliche dicke Matrone hatte dem lächelnden Ilja die fette Hand auf die Schulter gelegt, das Ganze auf dem Pariser Standesamt. Diese Hand wurde zum wichtigsten Belastungsmoment.
Olga stellte umfangreiche Ermittlungen an, erfuhr eine Menge Einzelheiten und kehrte nach Hause zurück, halbtot von dem Wust an widersprüchlichen Auskünften und überzeugt, dass Ilja sie belog und diese Ehe keineswegs fiktiv war.
In Moskau musste sie sofort ins Krankenhaus. Erneute Blutungen. Bei einer Notoperation wurde ein großer Teil des Magens entfernt. Aber das eigentliche Geschwür lag in ihrer Kosmetiktasche, in einer Plastiktüte – das bewusste Farbfoto. Sie konnte nur noch über die Niedertracht ihres Exmannes reden. Als sie nach der Operation aus der Narkose erwachte, sagte sie zu ihrer Freundin Tamara Brin, genannt Brintschik, die sich rührend um
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