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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Tamaras Hand und flüsterte:
    »Brintschik, du verstehst immer noch nichts.«
    Eines Abends erzählte sie Tamara einen Traum vom Vortag: Auf einem riesigen Grasteppich steht ein großes grünes Zelt, davor eine ellenlange Schlange, eine riesige Menschenmenge, und Olga stellt sich hinten an, denn sie muss unbedingt in dieses Zelt gelangen.
    Tamara mit ihrem erwachten Gefühl für Mystisches erstarrte.
    »Ein Zelt?«
    »Ja, eine Art Zirkuszelt, aber sehr groß. Ich schaue mich um und entdecke, in der Schlange sind lauter bekannte Gesichter: Irgendwelche Mädchen aus dem Pionierlager, die ich seit meiner Kindheit nicht gesehen habe, Lehrer aus meiner Schulzeit, Leute von der Uni, unser Dozent … Ein ganzer Demonstrationszug!«
    »Auch Antonina Naumowna?«
    »Ja, Mama natürlich auch, und meine Großmutter, die ich nie gesehen habe, und lauter vertraute Gesichter – Micha zusammen mit irgendwelchen kleinen Jungen, Sanja, Galja mit ihrem Stiesel.«
    »Wie, Tote und Lebende zusammen?«
    »Ja, natürlich. Und ein Hund läuft mir direkt vor die Füße und lächelt. Ich schaue hin – ein Mädchen hält ihn an der Leine. Ich kannte mal so ein rührendes Mädchen, Marina. Wie der Hund hieß, weiß ich nicht mehr … Gera! Gera hieß der Hund! Und noch viele, viele Leute … Und plötzlich, stell dir vor, ganz weit vorn, direkt am Eingang, entdecke ich Ilja, und er winkt mir. ›Olenka! Komm her! Komm! Ich hab dir einen Platz freigehalten!‹ Ich dränge mich durch die Menge zu ihm durch, alle regen sich darüber auf, und meine Mutter fragt, warum ich mich vordrängle. Doch da taucht ein großer alter Mann mit Bart auf, er sieht wundervoll aus, und ich weiß, das ist mein Großvater Naum; er hebt die Hand, alle treten auseinander, und ich renne zum Zelt. Das Zelt ist nun nicht mehr grün, sondern schimmert golden. Ich sehe – Ilja lächelt, er wartet auf mich. Er sieht sehr gut aus, vollkommen gesund und jung, er winkt mich zu sich und legt mir die Hand auf die Schulter. Da kommt diese Oxana, will sich an ihn hängen, aber er scheint sie gar nicht zu sehen. Das Zelt hat keine Tür, da ist nur ein dicker Stoff, eine Art Vorhang, der lüftet sich ein Stück, und durch den Spalt dringt Musik – ich kann nicht sagen, was für eine Musik, jedenfalls hat sie einen Geruch, den man sich nicht vorstellen kann, und scheint zu leuchten.«
    »Das Paradies«, flüsterte Tamara stumm.
    »Unsinn, Brintschik! Was für ein Paradies? Was zum Teufel erzählst du da?«
    »Aber Olga, wie kannst du so reden?«, frage Tamara erschrocken.
    »Schon gut, schon gut, werd nicht gleich panisch. Von mir aus, das Paradies. Mit Worten ist das sowieso nicht zu erklären. Jedenfalls, wir gehen zusammen hinein.«
    »Und was war da drin?«, hauchte Tamara.
    »Nichts. Ich bin aufgewacht. Ein schöner Traum, nicht?«
    Olga starb vierzig Tage nach Iljas Tod.

Liebe im Ruhestand
    Einmal im Monat stand Afanassi Michailowitsch um fünf Uhr früh auf statt wie sonst um sieben, rasierte sich besonders gründlich und zog frische Unterwäsche an. Er frühstückte Brot und Tee, zog einen Wollmantel über seine alte Uniformjacke und setzte eine Ohrenklappenmütze auf. In diesem zivilen Aufzug fühlte er sich wie ein König auf einem Maskenball. Und tatsächlich erkannte ihn niemand, nicht einmal der Pförtner am Tor der Datschasiedlung grüßte ihn.
    Nach dem Schneefall am Vortag war alles sauber und frisch wie nach einem Großreinemachen. Afanassi ging zur Bushaltestelle und stellte sich unter das Dach. Zwei Frauen warteten auf den Bus – eine Krankenschwester, die ihn nicht erkannte, und eine Fremde. Aber auch sie schien eine Ortsansässige zu sein, aus dem Dorf. Er drehte sich weg und schaute in die andere Richtung.
    Afanassi fuhr zum heimlichen Rendezvous mit seiner Herzensfreundin Sofotschka, um ein bisschen zu reden und zu seufzen, seine Seele oder was auch immer zu erleichtern – irgendetwas in der Art hatte vermutlich auch ein General – und um von ihr zu hören, warum er sich so quälte.
    Sie hatte die Gabe, in seinem Namen zu sprechen. Seit dem Tag, da sie 1935 seine Sekretärin im Volkskommissariat für Verteidigung geworden war, wo er in seinem Beruf als Spezialist für Militärbauten arbeitete, konnte sie alles ausdrücken, was er nicht in die richtigen Worte zu fassen vermochte.
    Sie hatte sich kein einziges Mal geirrt. Nie. Was nötig war, sagte sie. Und was nicht nötig war, sagte sie nicht. So ging es bis 1949, mit einer Unterbrechung durch den Krieg.

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