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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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früher. Nachts schaltete sie Radio Swoboda ein, hörte alle Sendungen, in denen Iljas Stimme ertönte, und war nun sicher, dass alles gut ausgehen würde. Sie hörte nach wie vor mit Interesse, wenn etwas »gegen die Sowjetmacht« vorgebracht wurde, aber das Feuer der einstigen Empörung war seit Iljas Ausreise stark abgekühlt.
    Olga übersetzte nun technische Patente und verdiente damit sehr gut. Entsprechende Kurse hatte sie schon vor ihrer Krankheit besucht. Ab und zu machte sie sich die Mühe, zum zentralen Telegrafenamt zu fahren und eine Pariser Telefonnummer anzurufen. Manchmal ging niemand dran, aber meist nahm eine Frau ab. Je später es war, desto betrunkener klang ihr »J’écoute! Hallo! J’écoute!« , und Olga legte sofort auf. Ilja ging nie dran. Ganz klar, sie hatten sich getrennt, zumindest räumlich!
    So lebte Olga, völlig in Anspruch genommen von ihrer Arbeit und dem Warten auf eine Schicksalswende, in der absoluten Sicherheit, dass sie und Ilja bald wieder vereint sein würden.
    Dann kam der Tag, an dem Ilja aus München anrief. Sie erkannte seine Stimme, aber sie klang irgendwie belegt.
    »Olga! Ich denke die ganze Zeit an dich! Ich liebe dich! Mein ganzes Leben lang nur dich. Ich habe dich eingeholt und überholt. Ich habe Nierenkrebs, nächste Woche werde ich operiert.«
    »Woher weißt du, dass es Krebs ist? Solange keine Biopsie gemacht wurde, ist gar nichts sicher! Damit kenne ich mich aus! Du weißt doch, ich habe es überwunden! Aus eigener Kraft!«, schrie sie in den Hörer, und er schwieg und versuchte gar nicht, sie zu unterbrechen. »Lass vor allem nicht zu, dass sie dich operieren!«
    Aber die Hauptsache war etwas anderes: Er liebte sie, nur sie, für immer und ewig.
    Das zweite Mal rief er nach der Operation aus der Klinik an. Fortan telefonierten sie fast täglich. Er las ihr seine Befunde vor, sie sagte ihm daraufhin, welche Heilkräuter er brauche, besorgte sie in Moskauer Apotheken und bei ihren Kräuterkundigen, gab sie Bekannten mit nach München, schickte ihm Salben und Einreibungen und erklärte ihm genau, was er wie und wann einreiben müsse. Als er eine Chemotherapie begann, wurde sie wütend und schrie in den Hörer, das sei sein Verderben, die Chemie richte mehr Schaden an als der Krebs.
    »Verlass sofort das Krankenhaus und komm her! Ich kenne mich damit aus! Ich habe mich gerettet, ich werde auch dich retten!«
    Es lag etwas in der Luft, und obwohl Olga sich inzwischen von ihren einstigen Dissidentenfreunden entfernt hatte, spürte sie: Die schwerfälligen Jahre der Stagnation waren vorbei, und ihr Schrei, er solle herkommen, schien nicht mehr vollkommen aberwitzig. Er antwortete genau das, was sie am liebsten hören wollte.
    »Nein, Olenka, das geht vorerst nicht. Wenn ich diese Geschichte hier überlebe, sorgen wir dafür, dass du herkommst …«
    Er rief sie zwar weiterhin an, aber seine Stimme wurde immer schwächer und die Anrufe seltener. Schließlich kam der letzte, eine Stimme wie aus dem Grab.
    »Olga, ich rufe dich von einem Mobiltelefon an! Ein Freund hat es mir ins Zimmer gebracht! Stell dir vor, was es jetzt alles gibt! Was für ein Fortschritt! Ich bin mit Drähten und Schläuchen gespickt wie ein Kosmonaut. Bald kommt der Countdown, und dann fliege ich los …«
    Er lachte leise – sein atemloses, ein wenig schrilles Lachen.
    Zwei Tage darauf erfuhr Olga von einem Anrufer aus München von Iljas Tod.
    »Aha«, sagte Olga rätselhaft und verstummte.
    Am Abend kam Tamara, und sie tranken schweigend jeder ein Glas Wodka. Kostja schenkte ein und schnitt ihnen Käse und Wurst auf.
    Einige Tage darauf entdeckte Olga auf ihrem Kopf merkwürdige Gebilde, wie Fettgeschwulste. Sie ließen sich schmerzlos unter der Haut hin und her schieben. Auch in den Achselhöhlen saßen solche Kügelchen, die irgendwie miteinander verbunden schienen wie eine Traube.
    Die Nachricht von Iljas Tod hatte Olga alle Kraft geraubt, sie legte sich hin und stand nicht mehr auf. Tamara kam jeden Tag, saß bis spätnachts bei ihr, wollte sie überreden, einen Arzt aufzusuchen, aber Olga lächelte nur vage und zuckte die Achseln. Tamara beschäftigte sich zwar ihr Leben lang mit innerer Medizin, hatte darin sogar promoviert und sich habilitiert, aber nie als Ärztin gearbeitet und kaum mit Patienten zu tun gehabt. Trotzdem war ihr klar, dass es sich hier um rasant sich ausbreitende Metastasen handelte und eine sofortige Chemotherapie nötig war. Aber Olga lächelte selig, streichelte

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