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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Millionen ihrer Altersgenossen ihn kannten. Aber das Wichtigste war natürlich Ilja selbst: An seiner Seite wurde alles anders, alles offenbarte neue Eigenschaften, selbst das Wetter. Und wie er fotografierte! Zum Beispiel Regen … Bäume durchs Fenster gesehen, gebrochen in den an der Scheibe herunterlaufenden Tropfen; ein Pelzkragen mit Wasserperlen darin … eine Pfütze, in deren Mitte eine Zeitung schwimmt, halb untergegangen das Wort »kommunistische«.
    Früher hatte Olga nie geahnt, was für interessante Menschen es auf der Welt gab und wie unterschiedlich sie waren, mit ihren eigenen Philosophien und Religionen. Bislang war sie nur einem einzigen besonderen, vielleicht sogar genialen Menschen begegnet – jenem Dozenten, ihrem Diplombetreuer, dem Untergrundautor, der seine Bücher im Ausland veröffentlicht hatte und dessentwegen sie von der Uni geflogen war. In Iljas Umfeld aber waren alle so – besonders. Natürlich war nicht jeder ein Schriftsteller. Aber jeder war etwas Besonderes, mit ausgefallenen Interessen und außerordentlichem Wissen auf Gebieten, die im normalen Leben vollkommen überflüssig waren: eine ältere Dame mit Spezialkenntnissen über den Diamantenabbau in Kimberlitschloten, ein hinkender Experte für ein Theater, das es nicht gab, ein Maler aus einem Vorort, der Müllkippen und Zäune malte, ein UFO-Forscher, ein Verfasser von Horoskopen und ein Tibetisch-Übersetzer … Sie alle, bis auf die Dame mit den Diamanten, arbeiteten als Pförtner, Fahrstuhlführer oder fiktive Privatsekretäre, ließen sich aushalten von ihren arbeitenden Frauen oder Müttern; kreative, unermüdliche Nichtstuer, Asoziale, Parias, gefährlich und faszinierend. Olga wusste nicht recht, ob sie sich weigerten, für den Staat zu arbeiten, oder ob der Staat nichts mit ihnen zu tun haben wollte.
    Der erste, zu dem Ilja sie mitschleppte, war Artur Koroljow 4) , mit Spitznamen König Artur, ein Seemann im Ruhestand. Er lebte in Tarassowka, einem Vorort von Moskau, in einem windschiefen großen Haus mit Ofen, Brunnen an der Gartenpforte und Toilettenhäuschen im hintersten Winkel des Grundstücks. Die Pforte war mit einem großen Eisenring verschlossen, und Ilja pochte eine ganze Weile gegen das Blech, das die Pforte von innen verstärkte. Schließlich erschien auf der Treppe ein riesiger Glatzkopf in einer schwarzen Offiziersjacke. Ohne Eile kam er in schaukelndem Seemannsgang zur Pforte, stieß mit dem Finger dagegen, und sie öffnete sich mühelos. Er reichte Ilja seine schaufelförmige Hand, jeder Finger glich einer großen Möhre und war gelbrosa, wie nach großer Wäsche. Olga hatte noch nie einen derart ungewöhnlichen Menschen gesehen. Sie schaute genauer hin und entdeckte an seinem Gesicht etwas Eigenartiges: Er hatte keine Augenbrauen. Ein wettergegerbtes Bauerngesicht, selbst die Glatze sonnenverbrannt. Eine tiefe Bassstimme, aber ein dünnes Lachen, als käme es aus einer anderen Kehle. Er sah Olga nur flüchtig an, wie abwesend. Nannte nicht einmal seinen Namen. Olga war verwirrt – wie unerzogen! Dabei war er mal Marineoffizier gewesen!
    4) korol heißt russisch »König«. Anm. d. Ü.
    Sie gingen ins Haus – der Hausherr voran. An den Füßen trug er vietnamesische Gummilatschen – im Schneematsch. Ein Original. Das Haus war entsprechend: staubig, vollgemüllt. Sie blieben an der Tür stehen und hörten es rascheln: vom Feuer im Ofen, von den Mäusen in der Wand und von den alten Büchern, die überall herumlagen, in Stapeln, Bündeln und Haufen. Bücher auf dem Fußboden, auf dem Tisch und auf der Werkbank, die ebenfalls im Zimmer stand.
    Ilja nahm den großen Rucksack ab und zog eine Flasche Wodka heraus. Der Hausherr setzte sich in einen Sessel, dessen Armlehne mit einem Lappen umwickelt war, und musterte die Flasche mit missbilligendem Interesse.
    »König, wir müssen nicht trinken. Nicht unbedingt.«
    Der König lachte spöttisch.
    »Was soll ich denn sonst damit, wenn nicht trinken? Sie, meine Schöne, decken Sie den Tisch, draußen in der Diele sind Gabeln, Teller, alles was wir brauchen. Ich mag Hausarbeit ehrlich gesagt nicht so sehr.«
    Olga verschluckte sich schier vor Empörung: Was für eine Frechheit! So eine Frechheit! Meine Schöne! Fehlte nur noch, dass er sie »meine Liebe« nannte!
    Sie warf Ilja einen wütenden Blick zu, und der lachte – oder zwinkerte er ihr zu?
    Olga lächelte, wobei ihre berühmten Grübchen bebten, sah dem König gerade ins Gesicht und sagte schlicht:

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