Das gruene Zelt
Tochter von klein auf die seltene Tugend anerzogen, die eigenen Interessen denen der Gemeinschaft zu opfern. Das Gefühl sozialer Gerechtigkeit war dem Mädchen offenbar angeboren. Wenn ein Kind ein Butterbrot mit Zucker mit auf den Hof brachte, fiel es stets Olga und nur Olga zu, es unter die vorhandenen Münder aufzuteilen, und war das Stück Brot von besonders unregelmäßiger Form, konnte sie als Einzige auf dem ganzen Hof durch häppchenweise Aufteilung für absolute Gerechtigkeit sorgen. Aufgrund ihres Alters wusste sie nichts von Brotrationen – sie war kurz vor Kriegsende geboren – und auch nichts von den Rationen im Lager. Aber instinktiv wusste sie Bescheid.
Antonina Naumowna bewunderte ihr spätes Kind – es war gelungen! Es hatte das Beste von beiden Eltern mitbekommen: von der Mutter die Prinzipientreue und Standhaftigkeit, vom Vater die Güte und die hellhäutige Schönheit. Vom griechischen Erbe mütterlicherseits – schwarze Haare, übergroße Nase – keine Spur. Und nichts von der Fettleibigkeit, zu der Afanassi Michailowitsch von Jugend an neigte.
Als Olga ein Kind war, leitete Antonina Naumowna eine Jugendzeitschrift und probierte ihre theoretischen pädagogischen Ansätze an ihrer Tochter aus, umgekehrt flossen die Erfahrungen aus dem Umgang mit der Tochter in ihre Artikel ein. So schuf sie aus der Beobachtung spielender Kinder im Sandkasten – sie gossen Wasser auf den Sand und bauten daraus ein schiefes Schloss – ein eigenes metaphorisches Bild: Der Sand, das waren einzelne, auseinanderstrebende Persönlichkeiten, das Wasser war die Ideologie, die den Teig zusammenhielt, und aus diesem Baumaterial entstand ein großartiges Gebäude. Dieses Bild benutzte sie sowohl in einem Leitartikel als auch bei Vorträgen. Ihre öffentlichen Auftritte waren immer sehr bildhaft, besonders, wenn sie in Parteikreisen sprach. Sie hatte am Institut für Geschichte, Philosophie und Literatur studiert, eine Rarität in diesen Kreisen. Schriftsteller konnte sie damit nicht beeindrucken, die waren alle wortgewandt, bei denen zog sie andere Trümpfe. Aber in Parteikreisen schätzte man sie als Meisterin des Wortes.
Trotzdem fühlte sich Antonina Naumowna im Kollektiv nie so wohl wie ihre Tochter. Wenn sie ganz ehrlich war, gestand sie sich ein: Sie wurde beneidet! Wie traurig diese Erkenntnis auch war – es gab noch so kleingeistige Menschen, die sie beneideten, um ihre Stellung, um ihre Autorität, um den Respekt, den ihr die Obrigkeit entgegenbrachte.
Die kleine Olga hingegen fühlte sich im Kollektiv immer wohl. Ein Kinderkollektiv ist gesünder – schloss Antonina Naumowna daraus irrtümlicherweise. Es lag nämlich an etwas ganz anderem: Olga war die geborene Anführerin und nutzte ihre Begabung, ohne darüber nachzudenken. Die anderen ordneten sich ihr ohne jeden Zwang unter, Mädchen wie Jungen waren bereit, ihr bis ans Ende der Welt zu folgen. Das hübsche, fröhliche, energische, herzliche Mädchen hatte stets Freundinnen im Schlepptau. Es gefiel ihr, im allgemeinen Strom zu schwimmen, allerdings stets an der Spitze; sie mochte das Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, das seinen Höhepunkt stets auf der Maidemonstration der Werktätigen erreichte.
Einmal nahm die Mutter ihre Tochter mit auf die Gästetribüne des Mausoleums, Olga sog das Ereignis von der ersten bis zur letzten Minute in sich auf und sagte später zu ihrer Mutter:
»Ja, das war klasse! Aber selber mitgehen, mit allen zusammen, das ist doch schöner!«
Oh, dieses süße Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit! Die Gleichheit und Austauschbarkeit der Sandkörner, ihre Fähigkeit, zu einer einzigen, mächtigen Lawine zu verschmelzen, die alles auf ihrem Weg hinwegfegt. Es war ein Glück, ein kleines Teilchen davon zu sein. Geliebter Majakowski! Geliebter Wladimir Wladimirowitsch!
Doch dann kam Ilja und öffnete ihr die Augen. Über alles, was Olga wusste, wusste er etwas anderes. Ilja schwärmte für den frühen Majakowski, der den besten Teil seiner Sammlung von Avantgarde-Literatur ausmachte: auf Zeitungspapier, gelb, raschelnd, brüchig, auseinanderfallend – der feurige Majakowski. Ilja erzählte ihr so vieles, was nicht in den Schulbüchern stand! Der Tribun der Revolution – mit seiner Angst sich anzustecken, seiner kindlichen Prahlerei, seiner lebenslangen Liebe zu einer Frau, die mit der Geheimpolizei verbandelt war –, er erwies sich als weit komplizierter und interessanter, als Olga und
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