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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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Ledereinband, das er wie einen Säugling auf den Armen trug, und zeigte es Ilja.
    »Unglaublich! Achtzehntes Jahrhundert. 1795! Der vollständige Branntweinbrenner und Destillator .«
    »Kolossal!«, seufzte Ilja und lachte fröhlich. »Wie man Schnaps brennt?«
    »Das ist nicht der Punkt. Wirf einen Blick auf das Titelblatt! Du wirst staunen!« König Artur hob den Buchdeckel an.
    Ilja stieß einen Pfiff aus.
    »Donnerwetter! Aus dem Altpapier?«
    »Hm. Gezeichnet vom Besitzer – Berdjajew. Allerdings muss das noch überprüft werden.«
    »Da ist ein Experte gefragt. Ich kann es Saschka Gorelik zeigen«, schlug Ilja vor.
    »Nein, das gebe ich nicht aus dem Haus. Hol Saschka her. Ich stell ihm eine Flasche auf den Tisch«, entgegnete Artur.
    »Die bringt er schon selber mit. Vielleicht kauft er das Buch sogar.«
    »Ich denke gar nicht daran, es zu verkaufen!«
    Olga reckte den Hals, um Ilja über die Schulter zu schauen – mit lila Tinte stand da »Nikolai Berdjajew«.
    Der Name kam ihr bekannt vor, er war irgendwo schon mal gefallen. Aber sie fragte nicht nach, um sich den eben erworbenen Respekt nicht zu verderben. Allerdings war auch so klar, dass Ilja, obwohl er nicht studiert hatte, über Geschichte und Literatur weit besser Bescheid wusste als sie mit ihrem fast abgeschlossenen Universitätsstudium. Und auch dieser Seemann im Ruhestand war, den Büchern nach zu urteilen, von denen sein Haus voll war, offenbar ein gebildeter Mann. Was er sogleich bestätigte, indem er unterm Sofa einen kleinen, nur handtellergroßen Original Dickens hervorzog.
    »Das ist ein wunderbarer Autor, Ilja. Und was für einen Mist haben wir als Kinder gelesen!« Er winkte ab und lachte. »Das heißt, ich habe als Kind fast gar nichts gelesen, in ganz Isjum gab es bestimmt kein einziges Buch auf Englisch. Eine Kosakengegend. Bei uns wurden die Jungen aufs Pferd gesetzt, bevor sie laufen konnten. Sie können einen Säbel schwingen, aber nicht lesen und schreiben.«
    Obgleich Olga sich strikt vorgenommen hatte, keine Fragen zu stellen, platzte sie heraus:
    »Sie können auch mit einem Säbel umgehen?«
    »Nein, mein Kind, ich hab dieses ganze freie Kosakengetue von klein auf gehasst, mit dreizehn bin ich von zu Hause abgehauen, in die Nachimow-Marineschule. Ich war ein Romantiker. Also ein Idiot. Was Armee wirklich bedeutet, davon hatte ich keine Ahnung.«
    »Mein Kind« war natürlich beleidigend, aber Arturs Ton war ganz freundschaftlich. Und er hatte ihr dabei gerade in die Augen geschaut, nicht an ihr vorbei.
    Bald brachen sie auf. Ilja legte einen in Zeitungspapier eingewickelten Bücherpacken in den nun leeren Rucksack, gab König Artur ein kleines Bündel Geldscheine, und dann eilten sie zur Bahnstation – es ging auf zehn zu, um diese Zeit fuhren die Vorortzüge nur noch selten. Unterwegs fragte Olga Ilja aus, und er antwortete kurz angebunden. Ja, Artur war mal Marineoffizier gewesen, er hatte irgendeine Explosion überlebt. Aus psychischen Gründen wurde er aus der Marine entlassen, nun war er Rentner, arbeitete als Hilfsarbeiter in einer Altpapiersammelstelle. Anfangs verstand er kaum etwas von Büchern, aber im Laufe der Jahre hatte er sich eingefuchst. Er hatte einen Riecher. Im Übrigen brauchte man nicht mal einen besonderen Riecher – die Leute brachten die Bücher säckeweise. Er hat schon alles Mögliche zwischen alten Zeitungen und vollgekritzelten Schulbüchern rausgefischt – mal einen Band Karamsin, noch zu dessen Lebzeiten erschienen, mal einen Chlebnikow. Einen Steiner. Den findest du nicht mal im Antiquariat, eine Ausgabe vom Beginn des Jahrhunderts. Kennst du nicht? Das ist alles auch nicht meins, aber kennen muss man es. In letzter Zeit hat sich Artur mit Haut und Haar dem Yoga verschrieben. Er hat im Altpapier einen Vivekananda gefunden. Nun praktiziert er, meditiert.
    »Ich will auch … einen Vivekananda.« Olga wollte alles: alle Bücher, alle Gespräche, Musik, Theater, Film, Berdjajew, den Inder Vivekananda, umgehend Dickens auf Englisch lesen, und genau wie sie als Kind schnell Pionier hatte werden wollen und später Komsomolzin, um zu den Besten zu gehören, so wollte sie jetzt in den geheimnisvollen Kreis aufgenommen werden, der aus Ilja, König Artur und anderen bestand, die sie noch nicht kannte, von denen sie aber schon gehört hatte. Sie hatte sie vor dem Gerichtsgebäude gesehen, in dem gegen ihren Dozenten verhandelt wurde, und zu ihnen zu gehören war weit aufregender als in der

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