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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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er hatte schon früher angedeutet, dass sein Kind nicht ganz gesund war. Nun begriff sie, dass es nicht einfach eine Kinderkrankheit war, die vorbeiging, sondern eine unheilbare Katastrophe. Sie verstummten und starrten aus dem Fenster. Draußen bekamen sie ein so frisches, vom langen Regen reingewaschenes Grün zu sehen, dass sie ruhig auch eine Weile schweigen konnten. Nach diesem Geständnis waren sie einander noch näher – als ob das überhaupt möglich gewesen wäre.
    Die Tafel war direkt auf dem Weg zum Haus gedeckt. Das Grundstück war so zugewuchert mit Kletten, Himbeersträuchern und Brennnesseln, dass es nirgendwo sonst einen Platz gab. An die vierzig Gäste hatten sich eingefunden, und es waren noch nicht alle gekommen. Im hinteren Teil des Grundstücks glomm auf einem selbstgebastelten Grill noch das Holz, Rauch stieg auf, es roch nach nassem Gras und Jasmin. Zwei junge Männer, die nach Wanderrucksack und Gitarre aussahen, kümmerten sich um den Grill.
    An den Tisch setzte sich vorerst niemand, obwohl Teller und Schüsseln mit Salaten bereits die ganze Tischmitte einnahmen. Einige Gäste hatten sich passende Plätzchen gesucht und schon mal mit dem Trinken angefangen: in einem Pavillon, der seit langem zusammenzubrechen drohte, an der Regentonne, auf einem Baumstamm hinter der Toilette. Aus dem Haus drangen laute Schreie im Befehlston – hier hatte die Füchsin das Kommando. Da trat sie auch schon heraus: eine Schönheit, eine Sexbombe, ein Star – von den schlanken krummen Beinen auf extrem hohen Absätzen bis zu dem hochtoupierten Haarschopf. Mit einer großen, leicht getönten Brille und einem Lächeln, das links und rechts spitze Hauer entblößte. Ein Vampir? Eine Hexe?
    »Pannotschka 5) !«, flüsterte Olga Ilja ins Ohr. »Absolut filmreif. Eine echte Pannotschka.«
    5) Hexe, Gestalt aus Nikolai Gogols Erzählung Der Wij . Anm. d. Ü.
    »Genau«, stimmte Ilja ihr zu.
    Da entdeckte Olga den König. Er lümmelte auf einem Liegestuhl – er schlief oder meditierte; seine Augen waren geschlossen, das glatte große Kinn zum Himmel emporgereckt.
    »König! Zu Tisch, es ist Zeit!«, rief die Füchsin, und der König öffnete ein Auge. »Was liegst du da noch rum? Ohne dich fangen wir nicht an!«
    Das Gestrüpp geriet in Bewegung – die bereits leicht angetrunkenen Gäste kamen hervorgekrochen und setzten sich auf die Bänke am Tisch. Ilja schwang ein langes Bein über eine Bank und ließ sich fast als erster nieder. Olga daneben. Einige kannte sie schon, aber nicht alle.
    Was waren das für Gesichter! Unterschiedlichen Alters, von jung bis uralt, darunter eine höchst amüsante ältere Dame. Alle vollkommen unsowjetisch. Mehr noch – antisowjetisch! Herrlich antisowjetisch! Natürlich stammte auch der ins Gefängnis gesperrte Dozent aus diesem Kreis.
    »Erklär mir, who is who «, flüsterte Olga.
    »Wer genau interessiert dich denn?«
    »Na, zum Beispiel der da, der Rotschopf.«
    »Ah, Wassja Ruchin, Philosoph und Theologe. Ein Mann mit enzyklopädischem Wissen. Mit ihm kann man sich sehr gut unterhalten. Allerdings betrinkt er sich immer schnell, und wenn er betrunken ist, fängt er von der jüdisch-freimaurerischen Verschwörung an …«
    Der Philosoph und Theologe war vollkommen nüchtern und litt offenbar darunter. Er schenkte sich immer wieder eine undefinierbare alkoholische Flüssigkeit ein, und die neben ihm sitzende Frau, die hin und wieder ihren dicken geflochtenen Zopf im Nacken zurechtschob, versuchte leise, ihn daran zu hindern. Ein gebeugter, fast buckliger Mann mit scharfgeschnittenen kaukasischen Gesichtszügen und einem dekorativen Schnauzbart hob die rechte Hand, schwang die Linke zur Seite und sprach langsam eine Art Gedicht:
    »Ein Eheleben stets, Nebelehe nie!«
    »Ah, das ist Damiani – er ist ein Genie. Wie Chlebnikow. Palindrome, Akrostichen, alle möglichen formalen Spielereien. Und wunderbare Gedichte. Wirklich ein Genie. Zu spät geboren. Hätte er Anfang des Jahrhunderts gelebt, hätte er Chlebnikow in die Tasche gesteckt. Ich sehe Sascha Kuman noch gar nicht, das ist sein Erzfeind, die beiden tauchen immer zusammen auf. Sascha ist auch Dichter, aber von ganz anderer Art. Sobald sie aufeinandertreffen, kommt es unweigerlich zum Krach über die Poesie.«
    Ilja wartete Olgas Fragen nicht mehr ab, er erzählte von sich aus.
    »Die beiden da sind Menschenrechtler, der Dicke ist Mathematiker, Alik heißt er. Theoretiker. Mit eiserner Logik. Ich glaube, er ist der Einzige, an

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