Das gruene Zelt
Tolik, der beim besten Willen nicht nüchtern wurde, rief Artur Schura in seine Höhle, zog eine Schreibtischschublade auf, tippte mit seinem riesigen Finger in deren Inneres und sagte:
»Schura, Geld nimmst du dir hier raus.«
Dort lag viel Geld, Schura genierte sich und wehrte ab:
»Gib’s mir lieber selbst.«
Ohne hinzusehen griff er, soviel ihm in die Hand geriet, und gab es ihr. Sie staunte: Er war ja reich. Dabei hatte Lisa immer gesagt, seine Taschen seien leer, sie müsse allein zusehen, wie sie zurechtkomme. Das passte nicht zusammen.
Sich selbst Geld aus der Schublade zu nehmen war Schura peinlich, aber es so in die Hand gedrückt zu bekommen auch.
Viele Jahre hatte sie von ihrem eigenen Geld gelebt; ihr Mann war beim Flößen umgekommen, als Mascha gerade zwei war.
»Ich würde Vater gern was schicken«, sagte sie geistesgegenwärtig, obgleich sie daran zuvor nicht gedacht hatte.
»Ja, mach das, Iwan Lukjanytsch kann’s gebrauchen. Nimm noch mehr.« Er langte erneut in die Schublade und zog noch einen Packen heraus. Es amüsierte ihn, dass er zwar die Frau gewechselt, aber denselben Schwiegervater behalten hatte.
»Danke, Artjuscha. Vater geht es in letzter Zeit schlecht.«
Am nächsten Tag schickte Schura Mascha nach Moskau aufs Telegraphenamt, damit sie Geld an den Vater in Ugolnoje überwies. Trotz ihrer erst knapp achtzehn Jahre orientierte sich Mascha in der Stadt besser als Schura. Die Füchsin hatte ihre Nichte zweimal mit nach Moskau genommen, das letzte Mal hatte Mascha anderthalb Monate in deren Wohnung verbracht und war jeden Tag von morgens bis abends allein spazieren gegangen. Es machte ihr Spaß, allein spazieren zu gehen und die Stadt kennenzulernen.
Mascha wollte rasch aufs Telegraphenamt, das Geld überweisen, dann auf den Roten Platz, und wenn sie Glück hatte, schaffte sie es noch ins Mausoleum. Aber der zuständige Schalter war geschlossen, davor hing ein verlogener Zettel: »Betriebsbedingte Pause – 15 Minuten«. Mascha stand eine Viertelstunde vergeblich in der Schlange und machte sich dann auf den Weg zum Roten Platz. In den drei Jahren hatte sich nichts verändert, fand Mascha, es schienen nur mehr Leute unterwegs zu sein. Plötzlich lag der Rote Platz direkt vor ihr. Sie dachte sofort an ihre Freundinnen in Ugolnoje, Katja und Lenka – wenn sie nur einen Blick auf diese Pracht werfen könnten!
Wenn wir uns hier eingelebt haben, lade ich sie ein. Erst Lenka, dann Katja, beschloss Mascha.
Die Schlange vorm Mausoleum war ellenlang, und Mascha bog zum Kaufhaus GUM ab. Auch dort stand eine Schlange, sie quoll aus einem Seiteneingang. Ein Mädchen in Maschas Alter holte aus einer langen weißen Schachtel ein Paar Stiefel und zeigte es einem anderen Mädchen. Die wurde vor Neid ganz blass. Auch Mascha stockte der Atem: So etwas hatte sie noch nie gesehen! Hohe Stiefel, fast bis zum Knie, mit einem kleinen Absatz und aus so wunderschönem braunem Wildleder, wie es ihr Großvater – der sich mit Leder wirklich auskannte – niemals hinbekommen hätte.
Mascha hatte noch nie verrückte Wünsche gehegt, aber nun war sie plötzlich Feuer und Flamme: Für solche Stiefel hätte sie alles gegeben. Allerdings hatte sie nichts.
»Sind Sie die letzte? Dann komme ich nach Ihnen!«, sagte ein Mädchen mit gewaltiger Frisur und schubste sie leicht.
Da fiel Mascha ein, dass sie ja Geld bei sich hatte, ganze hundert Rubel, in ein Taschentuch eingewickelt und mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt. Und schon stand sie am Ende der Schlange und war nicht einmal mehr die letzte.
Vier Stunden stand sie an. Zweimal ging das Gerücht durch die Schlange: Sie sind gleich alle! Wie sich herausstellte, ging nur die Größe 38 zu Ende, andere Größen waren noch da. Als Mascha vorn stand, waren sämtliche Größen weg – kleine wie große. Aber auf dem Ladentisch türmten sich noch Kartons: Einige Frauen hatten kein Geld dabeigehabt, sich die Stiefel für zwei Stunden zurücklegen lassen und waren nach Hause geeilt, Geld holen. Doch wer es nicht schaffte, die Stiefel bis zur verabredeten Zeit abzuholen, ging für immer leer aus, denn andere mit Bargeld in den schweißigen Händen drängten sich nervös vor dem Ladentisch und warteten auf ihr Glück. Auch Mascha. Und sie wurde belohnt. Sie erhielt einen dünnen Pappkarton mit den zarten braunen Geschöpfen.
Den ganzen Rückweg schob sie immer wieder die Hand in den Karton und berührte die weichen Flanken im Dunkeln. Ich bin verrückt
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