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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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geworden, völlig verrückt geworden, sagte sich Mascha, konnte aber nichts dagegen tun. In der Bahn nach Tarassowka, in ihr neues Zuhause, weinte sie: Was sollte sie nun ihrer Mutter sagen und Onkel Artur? Sie hatte Großvaters Geld für Stiefel ausgegeben, eine Schande! Was sollte sie ihnen sagen, was nur?
    Kurz vorm Haus blieb sie stehen. Ihre Entscheidung war simpel, wenn auch nicht endgültig. Sie schlüpfte durch die Pforte, lief in einen Winkel hinter der Toilette und begrub den Karton unter einem großen Haufen Vorjahreslaub.
    Schura hatte sich solche Sorgen gemacht, dass ihre Tochter in der Stadt womöglich verlorengegangen war, dass sie nicht einmal mit Mascha schimpfte. Sie fragte nur, ob sie das Geld überwiesen habe. Mascha nickte.
    »Ich hab mich verfahren, Mama. Bin an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Und dann habe ich mir noch die Universität angesehen.«
    So log die grundehrliche Mascha und staunte selbst, wie leicht das ging. Am anderen Morgen gingen Schura und Artur in ein Farbengeschäft. Schura wollte renovieren. Artur wollte eigentlich nicht, stimmte aber aus Nachgiebigkeit zu, zumal Schura alles selbst machte: Sie tapezierte und weißelte die Decken. Ihre Schwester spottete immer, Schura befriedige ihre sexuellen Bedürfnisse mit einem anständigen Scheuerlappen, sie selbst dagegen mit einem anständigen … Die Füchsin war nicht wählerisch in ihren Ausdrücken.
    Als Mascha allein war, zog sie den Karton aus dem Laubhaufen und trug ihn, an die Brust gedrückt, ins Haus. Sie nahm die Stiefel heraus, wischte sich mit den Händen die Füße ab und wollte barfuß in die Stiefel schlüpfen, kam aber nicht hinein. Sie nahm Strümpfe ihrer Mutter aus deren Koffer, streifte sie über und schob die Füße in die Stiefel. Sie waren ein wenig zu klein, sie drückten. Aber da sie weich und zart waren wie Kinderhaut, ließen sich die Füße hineinzwängen.
    Im Sommer sind die Füße geschwollen, im Winter sind sie schmaler, tröstete sich Mascha. Aber sie beschloss, die Stiefel fest mit Papier auszustopfen, damit sie sich etwas weiteten. Sie suchte und suchte – im ganzen Haus gab es nur schmutziges Zeitungspapier. Das konnte sie doch nicht in diese himmlischen Stiefel stopfen! Sie kroch unter den Tisch und fand dort etwas Geeignetes – einen dicken Packen dünnes Papier. Mascha zerknüllte Blatt für Blatt und stopfte die Stiefel bis obenhin damit voll. Den ganzen Packen verbrauchte sie, bis auf das letzte Blatt. Die Stiefel sahen aus, als steckten lebendige Beine darin. Mascha schmiegte einen Stiefel an ihre Wange – tatsächlich, wie Kinderhaut. »Dorndorf« stand auf dem Karton. Wo lag dieses Dorndorf? In Deutschland? In Österreich? Und wo sollte sie die Stiefel jetzt verstecken, doch nicht in dem Laubhaufen hinter der Toilette … Sie überlegte und überlegte, konnte sich aber nicht entschließen, sie im Haus zu lassen. Sie brachte sie ins Toilettenhäuschen. Direkt unter der Decke hing ein Brett, ganz voller Spinnenweben. Da langte niemand hin. Irgendwer hatte vor langer Zeit zwei leere Farbbüchsen dort abgestellt und vergessen. Mascha tastete alles ab – es war trocken; auf dem Toilettendach lag ein solides Stück Dachpappe, das sogar ein wenig überhing.
    Bald, entschied Mascha, werde ich arbeiten und Geld verdienen, das schicke ich Großvater, dann erfährt niemand etwas. Und wenn der Winter kommt, habe ich Stiefel! Und das Studium – zum Teufel damit, fange ich eben im nächsten Jahr an.
    Ja, eine solche Revolution ereignete sich an diesem einen Tag in Maschas Kopf. Ihr wurde sogar leichter ums Herz – mit ihrem guten Schulabschluss, knapp an einer Medaille vorbei, hatte sie eigentlich gleich mit dem Studium anfangen wollen, heiraten und sich in Moskau niederlassen, um der Mutter und dem Onkel nicht zur Last zu fallen, aber wegen der Stiefel verschob sie das alles nun um ein Jahr. Sie stieß den Karton ganz in die Ecke, stellte die Farbbüchsen davor … Sehr gut stand er da, der Karton. Absolut nicht zu sehen.
    Ihre Mutter und Artur kamen nicht so bald zurück. Sie mussten von Tarassowka noch nach Puschkino fahren, in das große Baustoffgeschäft. Dort kauften sie Tapeten, Kleister, Tünche für die Decke und weiße Farbe für die Fenster. Erst gegen Abend kehrten sie mit dem Auto zurück. Schura war zufrieden, strahlte wie ein Messingteller, lief hektisch herum und schleppte Tapetenrollen ins Haus. Artur war wie immer gutmütig-träge und bedächtig.
    Wie ein Gutsherr, dachte

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