Das gruene Zelt
der Musik zu tun hatte. Mutter und Großmutter schirmten ihn wie zwei Schutzengel mit Schwertern gegen die fremde Welt ab und schufen in ihrem zweiunddreißig Quadratmeter großen Zimmer für ihn eine wunderbare Schutzzone, fragten sich allerdings voller Sorge: Wie würde er ohne sie leben, außerhalb dieses Zimmers, und noch später, nach ihrem Tod? Anfangs wollten sie ihn zu Hause unterrichten, ihn nicht in die Schule geben, konnten sich aber nicht zu einem so radikalen Schritt entschließen.
Wassili Innokentiewitsch, den sie als Berater hinzuzogen, um eine Gegenmeinung einzuholen, enttäuschte sie nicht; er hatte überzeugende Argumente parat, und das stärkste davon lautete: Wenn der Junge sich nicht von Kindheit an anpasst, sich nicht in der Schule Beulen holt, wird er später durch seine soziale Unschuld so auffallen, dass er unweigerlich im Gefängnis landet.
Mutter und Großmutter sahen sich an und schickten ihren Jungen, sich Beulen holen. Die ersten fünf Schuljahre verbrachte er fast wie in einer Einzelzelle. Er wurde auf merkwürdige Art ignoriert, als wäre er durchsichtig. Und er pflegte seine Durchsichtigkeit, schützte sich vor der Grobheit der Jungen mit einem höflichen Lächeln, und außer Fremdheit gab es zwischen ihm und dem Kollektiv keinerlei Beziehung.
Ein Wunder geschah zu Beginn der sechsten Klasse – ein Kätzchen, das von einem Hund und Sanjas Mitschülern gehetzt worden war, begründete mit seinem Tod die Freundschaft zwischen Sanja, Ilja und Micha. Die gefestigt wurde durch die gegenseitigen Offenbarungen der intimsten Geheimnisse.
Doch zum Ende der Schulzeit waren neue Geheimnisse hinzugekommen, die nicht gebeichtet wurden. Die Freunde waren fast erwachsen und akzeptierten, dass jeder das Recht auf einen geheimen Teil seines Lebens hatte. Sanjas Geheimnis hatte keinen Namen, aber er fürchtete eine Entlarvung: dass Ilja und Micha etwas über ihn erfahren könnten, was er selbst nicht benennen konnte. Seine Zukunft war noch vage, sie war noch nicht herangereift und bescherte ihm noch keine heftigen Gefühle, nur eine vage Sehnsucht. Die Jungen verschwiegen einander einiges, doch das Verschweigen war kein Hindernis für ihre Freundschaft. Sie stritten sich nie, sie hatten gelernt, jede Meinungsverschiedenheit in einen amüsanten Dialog zu verwandeln, ein Minitheater, dessen Regeln nur sie drei kannten, das Trianon.
Doch selbst wenn Sanja seine geheime Entdeckung seinen Freunden hätte offenbaren wollen – er hätte es nicht vermocht, weil ihm die Worte dafür fehlten. Und ungenaue Formulierungen widerstrebten seinem inneren Hang zu Exaktheit.
Verstehen konnte ihn nur Lisa, eine in jeder Hinsicht verwandte Seele, die Enkelin von Wassili Innokentiewitsch. Sie war Pianistin, schon fast eine richtige, obwohl sie noch nicht am Konservatorium studierte. Aber das würde sie bald. Er, Sanja, dagegen nie.
Nur ihr erzählte er von seinem Verdacht, dass die Welt, in der man sich morgens die Zähne mit Zahnpulver putzt, Essen kocht, isst, das Essen in der Toilette wieder ausscheidet, Zeitung liest und abends seinen Kopf auf ein Kissen bettet und einschläft – dass diese Welt nicht die echte sei. Ein überzeugender Beweis für die Existenz einer anderen Welt sei die Musik, die dort entstehe und auf geheimnisvolle Weise hierher gelange. Und zwar nicht nur die, die im Saal des Konservatoriums erklinge, als chaotisches Durcheinander die Flure der Musikschule erfülle oder in schwarze Schallplattenrillen gepresst sei. Nein, selbst die Musik, die aus dem Radio töne, mit Lücken und ungenauen Noten, selbst die komme aus dem Spalt zwischen den Welten.
Sanja erstarrte bei dem Gedanken, dass die hiesige Welt, in der es die Großmutter gab, Zahnpulver und die Toilette am Ende des Flurs, eine Täuschung war, eine Illusion, und dass alles hier zerplatzen würde wie eine Seifenblase im Waschtrog, wenn sich der Spalt ein wenig weiter auftäte.
»Verstehst du, hier ist es widerlich, unerträglich, und dorthin kann ich nicht. Ich bin nicht normal, wie?«
Lisa zuckte nur die Achseln und sagte:
»Ja, natürlich. Aber nicht normal, das ist Blödsinn! Natürlich gibt es eine Grenze zwischen den Welten … Wenn du spielst, bist du dort.«
Sie war überzeugt, dass viele das wussten. Wahrscheinlich, weil sie auf die Musikschule ging und alle ihre Mitschüler acht Stunden am Tag Klavier, Geige oder Cello spielten und mit unsichtbaren Ketten an ihr Notenpult gefesselt waren.
Sanja rührte das Klavier im
Weitere Kostenlose Bücher