Das gruene Zelt
letzten Schuljahr kaum an. Natürlich, für ihn war alles vorbei. Er verzichtete auf die Privatstunden, und Anna Alexandrowna seufzte nur.
Sie besuchten Konzerte.
Mit Lisa ging Sanja noch lieber ins Konzert als mit der Großmutter. Sie hörten, sie verglichen, verständigten sich mit winzigen Zeichen – ein angedeutetes Nicken, ein halber Seufzer, ein Luftanhalten, als höchstes der Gefühle eine Berührung der Hände. Alles stimmte überein. Dann brachte er sie zum O-Bus, manchmal fuhr er mit ihr bis zur Metro Nowoslobodskaja, und sie sprachen über Chopin und Schubert, später über Prokofjew und Strawinsky, über Schostakowitsch. Sie ahnten nicht, dass sie diese Gespräche über Musik ihr Leben lang führen würden, bis einer von ihnen starb – über Bach, über Beethoven, über Alban Berg. Und dass sie mehrfach wegen eines einzigen Konzerts nach Paris, Madrid oder London fliegen würden, um gemeinsam erst die Musik zu genießen und anschließend das Gespräch bis zum nächsten Morgen, um danach wieder an verschiedene Enden der Welt zurückzufliegen.
Aber konnte er Lisa etwa von dem Hauswartsverschlag erzählen, von der Dunkelheit, von der Vereinigung mit dieser Finsternis, von der Qual, die ihn nach dieser großen Mannestat erfasst hatte? Von Nadka mit dem glänzenden Zahnfleisch?
Bald nach Neujahr wurde Nadka aus der Schule geworfen, was ungerecht war, denn sie hatte durchaus passable Leistungen. Die Natur hatte sie nicht nur mit üppigem Fleisch gesegnet, sondern ebenso mit einem gut funktionierenden Kopf. Auch ihr Verhalten in der Schule konnte man nicht als schlecht bezeichnen – sie saß schläfrig im Unterricht, war nicht frech zu den Lehrern und bekam stets sichere Zweien. Die Direktorin bestellte sie zu sich, konfrontierte sie mit dem, was sie über die Geheimnisse des Hauswartsverschlags wusste, und forderte Nadka auf, ihre Papiere abzuholen. Nadka weinte, tat wie geheißen und wechselte an eine Schule der Arbeiterjugend, was sich als richtig erwies.
Ihre früheren Freunde besuchten sie noch immer, aber sie hatte nun wenig Zeit; vormittags arbeitete sie in einer Bäckerei in der Pokrowka, abends ging sie zur Schule.
Obwohl Sanja und sie noch viele Jahre im selben Viertel wohnten, trafen sie sich nur ein einziges Mal, vorm Kino Uran in der Sretenka, ganz zufällig, Sanja war mit Anna Alexandrowna gekommen, Nadka mit ihrer Freundin Lilka. Sanja verbeugte sich von weitem, und Nadka flüsterte ihrer Freundin etwas ins Ohr und kicherte.
Sanja wandte sich ab: vergessen, vergessen … Zu keinem ein Wort … Niemals … Dieses Erlebnis war verdrängt, auf den Grund der Erinnerung gesunken.
Ach, Lisa, Lisa, was bist du doch … mir fehlen die Worte!
Sie war rein und zerbrechlich wie Kristall, es war absurd anzunehmen, dass sie aus den gleichen Zutaten bestand wie die fleischige Nadka, dass auch sie das gleiche Gummigeschirr trug – Büstenhalter, Strumpfhalter mit angeknöpften Strümpfen. Allein der Gedanke war frevelhaft. Sanja fegte die niederen Mutmaßungen beiseite: Engel trugen natürlich keine Gummibänder.
Hier irrte Sanja gewaltig. Der Engel trug all diese Wäschestücke, und jene Macht, die Sanja im Hauswartsverschlag kennengelernt hatte, war ihr keineswegs fremd. Langsam, aber durchaus zielstrebig entwickelte sich eine Romanze zwischen Lisa und einem jungen Geiger, einem Konservatoriumsstudenten aus einer berühmten Musikerfamilie. Der tapsige dicke Boris mit dem großporigen rötlichen Gesicht und der zottigen schwarzen Mähne – kaum zu glauben! – gefiel Lisa. Vielleicht machte der Name seines Großvaters auf einer Marmortafel im Foyer des Kleinen Saals des Konservatoriums ihn attraktiver. Erst nach vier Jahren, kurz vor der Hochzeit der beiden, erfuhr Sanja von ihrer Beziehung und war sehr verletzt: Alles Fleischliche, alles zwischen Mann und Frau hatte den schmutzigen Beigeschmack von Hauswartsverschlag und war der absolute Gegensatz zur reinen Welt der Töne. Was konnte das alles mit Lisa zu tun haben? Sie spielte immer besser, war über das Schülerniveau hinausgewachsen und hatte ihren ganz eigenen Klang gefunden, ihre persönliche Intonation. Und dieser dicke Boris? Nein, es war keine Eifersucht, eher Unverständnis …
Zwei Wochen vor der Eheschließung von Lisa und Boris spielten die beiden ein Duett – Mozartsonaten für Geige und Klavier. Sanja saß im halbleeren Saal und litt: Er kannte diese Sonaten, und ihn peinigte das unstimmige Zusammenspiel der beiden Partien –
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