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Das gruene Zelt

Das gruene Zelt

Titel: Das gruene Zelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ljudmila Ulitzkaja
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nachher.«
    Die Ratte beruhigte Sanja seltsamerweise. Er fürchtete, Nadka würde aufhören, seine Hände über ihren Körper zu führen, und sich ihn vornehmen. Genau so kam es. Oh, wie gern wäre er geflohen, doch nun war es zu spät, viel zu spät. Sie hielt ihn bereits in ihren weichen Händen und flüsterte:
    »Mein Kleiner, mein Lieber …«
    Das war eigentlich taktlos, aber aufmunternd gemeint, Ausdruck absoluter Sympathie. Die Verführerin war mitfühlend, sie hielt seine schüchterne Männlichkeit fest und zärtlich in den Händen.
    »Siehst du, wie schön das ist.« Die unsichtbare Nadka seufzte tief. Sie hatte gesiegt, das fühlte sie. Wieder einmal hatte sie gesiegt. Sie drückte Sanjas Kopf auf ihre Brust – was für eine Macht, so besiegte sie sie alle.
    »Ich will nicht, ich will nicht«, wiederholte Sanja im Stillen, aber das half nicht mehr. Er war bereits in ihr und konnte nicht mehr weg.
    Ein leises, zufriedenes Lachen.
    »Na also, das Wasser findet das Löchlein.«
    Was der Beginn hätte sein können, war zugleich auch die Vollendung.
    Ein Zucken, und es brach heraus. Klebrig und heiß. Und unendlich beschämend. Das sollte es nun gewesen sein?
    Nadka suchte mit dem Mund seine Lippen. Er hielt sie ihr höflich hin. Sie leckte seinen Mund mit ihrer großen Zunge ab und schob sie eine wenig unter seine Oberlippe. Saugte Luft ein. Ein schmatzender Laut.
    »Lieber sterben als ohne Liebe küssen«, flüsterte sie.
    Genau. Lieber sterben als das alles …
    Draußen nieselte es noch immer unaufhörlich. Auf der anderen Straßenseite wartete Ilja. Er kam herüber.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er sachlich, ohne zu lächeln.
    »Ja. Ziemlich widerlich«, antwortete Sanja leichthin, so dass Ilja nicht einmal ahnte, wie widerlich ihm das Ganze war.
    Schweigend gingen sie bis zu Sanjas Haus und verabschiedeten sich vor der Tür.
    Am nächsten Tag fehlte Sanja in der Schule. Er war krank. Das Übliche – fast vierzig Fieber, sonst nichts. Im Halbschlaf bildete er sich ein, er liege im Sterben, er habe Syphilis oder noch Schlimmeres. Aber es war nichts dergleichen. Nach drei Tagen war das Fieber gesunken, er lag noch ein paar Tage im Bett, seine Großmutter kochte ihm Most, machte ihm Teigröllchen mit Schlagsahne und rieb ihm grüne Äpfel, und er kämpfte gegen den immer wieder aufkommenden Ekel vor sich selbst, vor seinem Körper, der ihn verraten und gegen seinen, Sanjas Willen auf fremdes Begehren reagiert hatte … Oder doch nicht gegen seinen Willen?
    Er las die Odyssee. Er kam bis zu der Stelle, da Odysseus’ Gefährten an der Insel der Sirenen vorbeirudern und ihre Ohren mit Wachs verstopft sind – sonst wären sie ins Wasser gesprungen und den Stimmen der Sirenen gefolgt –, während Odysseus, am Mast festgebunden, sich windet und versucht, die Fesseln abzureißen, um sich ins Meer zu stürzen und dem unerträglich lockenden Gesang zu folgen. Er ist der Einzige, der diesen Gesang hört und überlebt. Das steinige Ufer ist mit den verdorrten Häuten und Gebeinen der Reisenden übersät, die die Insel erreicht haben – betört vom bezaubernden Gesang, wurden sie von den blutrünstigen Sirenen ausgesaugt.
    »Anjuta, was meinst du, die Geschichte mit den Sirenen – handelt die von der Macht des Geschlechts über den Mann?«
    Anna Alexandrowna erstarrte mit einem Kompottschälchen in der Hand.
    »Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Du hast völlig recht. Aber nicht nur über den Mann, auch über die Frau. Überhaupt über den Menschen. Liebe und Hunger beherrschen die Welt – das klingt furchtbar banal, aber genau so ist es.«
    »Und dem kann man nicht entgehen?«
    Anna Alexandrowna lachte.
    »Wahrscheinlich kann man das. Aber ich habe es nicht geschafft. Ich wollte es auch gar nicht. Früher oder später gerät jeder in diesen Strudel.«
    Sie legte ihm eine kühle, rauhe Hand auf die Stirn, und das war eine reine, heilende Berührung.
    »Das Fieber ist weg.«
    Sanja nahm ihre beringte knochige Hand und küsste sie.
    Der Junge ist erwachsen. Und so gut. Aber zu zart, viel zu sensibel, dachte Anna Alexandrowna traurig. Er wird es sehr schwer haben …
    Aber Sanjas Schwierigkeiten hatten schon weit eher angefangen, als seine Großmutter ahnte. Von frühester Kindheit an, schon im Vorschulalter, hatte ihn der Verdacht geplagt, anders zu sein als seine Altersgenossen, ja, überhaupt als andere Menschen, einen Defekt zu haben. Bestenfalls eine Eigenheit. Er bezweifelte nicht, dass das irgendwie mit

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