Das Gurren der Tauben (German Edition)
Meine
Erinnerung an den Rest der Verhandlung ist bruchst ü ckhaft. Doch ein
Satz blieb mir im Ged ä chtnis haften: "... Aus diesem Grund m ü ssen diese Angeklagten dauerhaft von der
sozialistischen Gesellschaft isoliert werden."
F ü r Andreas wurden
13 Jahre gefordert. Er kam in den Genuss dieser "Gnade", weil er
nicht an der Planungsphase teilgenommen hatte. Die Pl ä doyers der
Verteidiger nahm ich nicht mehr auf. Doch ich glaube nicht, dass ich etwas
verpasste.
Die Urteile
sollten am n ä chsten Tag verk ü ndet werden. Ich
gab mich keiner Illusion hin und war ü berzeugt, dass das Gericht den Antr ä gen der
Staatsanwaltschaft folgen w ü rde, obwohl es theoretisch anders entscheiden konnte.
Ich muss wie ein
Schlafwandler in die Zelle gekommen sein, denn mein Mitgefangener merkte
sofort, dass etwas nicht stimmte.
"Sch ä tze, was die
Staatsanwalt gefordert hat", sagte ich.
Er begann mit
acht Jahren und fragte, ob ich ihn veralbern wolle, als wir bei Lebensl ä nglich ankamen.
Er konnte es auch nicht glauben. Wir schwiegen eine Weile, dann sagte er:
"Es gibt Amnestien."
Oh Mann! Warum
war mir das nicht selbst eingefallen! Das war meine Chance! Ich musste nur dran
glauben. Der Schock sa ß zwar noch tief, doch die M ö glichkeit einer Amnestie baute mich wieder auf.
Die Urteilsverk ü ndung am n ä chsten Morgen
begann mit einer Horror-Nachricht. Rau verk ü ndete in feierlichem Ton, dass Obermeister Retzlaff in
der Nacht verstorben war. Ursache f ü r seinen Tod waren eindeutig die Verletzungen, die ihm
die auf ihn abgegebenen Sch ü sse zugef ü gt hatten. W ä hrend Rau
sprach, blickte ich zu Burkhard hin ü ber. Er war blass und hatte Schatten unter den Augen. Er
zitterte. Er war jetzt wegen Mordes angeklagt.
Das Gericht zog
sich zur ü ck um neu zu
beraten. Es brauchte nur ein paar Minuten. Dann kam es wieder in den Saal und
verk ü ndete das
Urteil:
Ich wurde wegen mehrfachen gemeinschaftlichen vollendeten
Terrors im besonders schweren Fall in teilweiser Tateinheit mit mehrfachem
versuchten Mord, schwerem Raub, verbrecherischem unbefugten Waffenbesitz,
mehrfacher K ö rperverletzung, Gefangenenmeuterei, mehrfacher
gemeinschaftlicher Freiheitsberaubung, gemeinschaftlichen Hausfriedensbruch,
vors ä tzlicher Besch ä digung sozialistischen Eigentums
und vors ä tzlicher Sachbesch ä digung – s ä mtlich in Tateinheit mit gemeinschaftlicher
Vorbereitung zum Terror im besonders schweren Fall und versuchtem
ungesetzlichen Grenz ü bertritts im schweren Fall – zu Lebensl ä nglicher
Freiheitsstrafe verurteilt. Au ß erdem wurden mir die staatsb ü rgerlichen Ehrenrechte f ü r dauernd aberkannt.
J ö rg und Burkhard
bekamen ebenfalls Lebensl ä nglich plus Aberkennung der staatsb ü rgerlichen Ehrenrechte und Andreas die geforderten 13
Jahre. Ihm wurden die staatsb ü rgerlichen Ehrenrechte f ü r 10 Jahre aberkannt. Die noch nicht absehbaren Kosten des Verfahrens
wurden uns als Gesamtschuldner auferlegt.
Nach der
Verhandlung kam Dr. Bleuler ins Wartezimmer um mich dar ü ber zu
informieren, dass eine Berufung sinnlos sei. Ich sagte, ich w ü rde sie trotzdem
einlegen. Er wandte sich an meine Aufpasser, verabschiedete sich freundlich und
ging.
Als ich zum
Transporter gebracht wurde und auf den Hof trat, fiel mir der wolkenlose Himmel
auf. Es war ein perfekter Sp ä tsommertag – eine Atmosph ä re die in
starkem Kontrast zu dem stand, was sich in meinem Innern abspielte. Auf dem Hof
standen mehrere gro ß e B ä ume. Einige
ihrer Bl ä tter waren schon
gelb, doch die meisten waren noch gr ü n. Ich fragte mich, ob ich je wieder einen Baum zu
Gesicht bekommen w ü rde.
Zur ü ck in der U-Haft
wurde ich ein letztes Mal zu meinem Vernehmer gebracht. Ich fragte ihn, ob er
mit diesem Urteil gerechnet hatte.
Er blickte mich
ernst an: "F ü r manch einen h ä tte es noch schlimmer kommen k ö nnen."
Ich versuchte
meine Emotionen zur ü ckzuhalten. "Es gibt Amnestien. Eines Tages werde ich wieder
rauskommen."
Der Vernehmer
lehnte sich l ä ssig in seinem
Stuhl zur ü ck: "Jeder
kommt eines Tages wieder raus."
Ich h ä tte heulen k ö nnen. Ich
schrieb meine Berufung, dann wurde ich zur ü ck in die Zelle gebracht.
Am n ä chsten Morgen
wurde ich ungew ö hnlich zeitig geweckt. "Nummer Zwei, anziehen!", sagte der
Feldwebel und gab mir mein Fr ü hst ü ck durch die
Luke. Ich hatte kaum gegessen, da wurde ich abgeholt.
Im W ä scheraum musste
ich meinen Arbeitsanzug ausziehen. Stattdessen bekam
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