Das Gurren der Tauben (German Edition)
gab dann noch einen zweiten Schuss, der die
Heckscheibe durchschlug."
"Drehen Sie
sich bitte um und schauen Sie sich die Angeklagten an", sagte der
Vorsitzende.
Wir wurden
aufgefordert uns zu erheben.
"K ö nnen Sie
denjenigen identifizieren der geschossen hat?", fragte der Vorsitzende den
Zeugen.
Der Polizist sch ü ttelte den Kopf:
"Nein, das ging alles so schnell. Und beim zweiten Schuss hatte ich ja
schon gewendet."
Rau sprang auf
und deutete auf mich: "War's nicht vielleicht der da?!"
Ich hatte nie
bestritten den Schuss abgegeben zu haben. Deshalb verstand ich die Aufregung
nicht. Wenigstens jetzt h ä tte Dr. Bleuler wegen Zeugenbeeinflussung mal intervenieren k ö nnen. Doch er
blieb unbek ü mmert sitzen und
hatte nichts zu beanstanden.
"Ich kann's
wirklich nicht sagen, Genosse Staatsanwalt", entschuldigte sich der Zeuge
und sah verunsichert abwechselnd den Vorsitzenden und Rau an.
Rau seinerseits
warf dem Polizisten einen w ü tenden Blick zu, wobei nicht auszumachen war ob deshalb weil er mich nicht
wie gew ü nscht
identifiziert oder ihn unpassender Weise mit "Genossen" angesprochen
hatte. "Also gut!", sagte er schlie ß lich und entlie ß den Zeugen mit einer Geste der Unzufriedenheit. Damit
war der erste Verhandlungstag vorbei.
Abends im Bett,
lie ß ich den Tag
Revue passieren. Der Prozess war ein Witz. Ich war sicher, dass die Urteile l ä ngst
feststanden. Es sollte lediglich die Fassade von Rechtsstaatlichkeit
aufrechterhalten werden. Nur der Ausbruch war verhandelt worden. Kein einziges
Mal war gefragt worden, warum ich aus der DDR fliehen wollte. Als einzige
Motivation wurde mir “ blinder Hass auf den Sozialismus ” unterstellt.
Schon w ä hrend der
Voruntersuchung war mir aufgefallen, dass mein tats ä chlicher Grund
nicht geh ö rt werden
wollte. Das war zu peinlich, denn “ so was ” gab ’ s im Sozialismus
nicht.
Ich musste an
meine erste Gerichtsverhandlung denken: Ein T ü rsteher hatte mir den Eintritt verwehrt mit den
Worten, dass “ Nigger hier
nicht reinkommen ” .
Mein Anwalt r ä usperte sich
verlegen als ich ihm das sagte: “ Er hat Sie also Neger genannt? ”–” Nigger, nicht
Neger ” , korrigierte
ich.
Bei der
Verhandlung sagte der Anwalt dem Gericht, der T ü rsteher h ä tte mich mit dem Wort “ Neger ” beleidigt ...
Bevor wir am
zweiten Verhandlungstag zum Gericht fuhren, teilte mir der weibliche Feldwebel
in der W ä schekammer mit,
dass meine am Vortag durchgeschwitzten Klamotten nicht gewaschen werden
konnten. Da ich nicht riechen wollte wie mein siamesischer Zwilling,
akzeptierte ich das von der U-Haft gestellte Hemd, den Anzug und die dazu
passenden Schuhe.
Die Verhandlung
begann mit der Anh ö rung weiterer Zeugen, unter ihnen Herr Volmert. Sehr zum Missfallen von
Staatsanwalt Rau, pr ä sentierte sich der Hausmeister ganz und gar nicht als ehemalige Geisel. Er
legte tats ä chlich ein gutes
Wort f ü r uns ein und
schien fast froh zu sein, dass alles so gekommen war, denn seine Wohnung war in
Rekordzeit renoviert worden. Au ß erdem hatte er eine nagelneue Wohnungseinrichtung bekommen. Und alles
umsonst. Als er sagte "Ich habe nicht gewusst, dass Handwerker in der DDR
so schnell arbeiten k ö nnen.", konnte Rau sich kaum beherrschen. H ä tte sein Blick t ö ten k ö nnen, w ä re Volmert auf
der Stelle tot umgefallen.
Unser ehemaliger
Zellenkamerad Matthias, der wegen Kindersch ä ndung einsa ß , wurde an einer Knebelkette in den Gerichtssaal gef ü hrt. Es ü berraschte mich
nicht, dass er mich stark belastete, denn die Antipathie war gegenseitig. Der
Vorsitzende verlas noch mehrere Expertengutachten, die jeweils 3.000 Mark
kosteten, dann wurde die Verhandlung wieder bis 14 Uhr vertagt.
Am Nachmittag
ging ’ s weiter mit den
Pl ä doyers. Die
beiden alten M ä nner wechselten
sich ab. Ihre Ausf ü hrungen wimmelten nur so von Ausdr ü cken und Phrasen wie Imperialismus, Konspiration,
Staatsfeinde, Vereitelung dieser Machenschaften, Feinde des Sozialismus und so
weiter. Die Strafantr ä ge verlas Bezirksstaatsanwalt Meckert mit seiner sanften, s ä chselnden
Stimme. Er forderte Lebensl ä nglich f ü r Burkhard, J ö rg und mich.
Als ich das h ö rte schn ü rte sich mir die
Kehle zu. Ich rang nach Luft. Lebensl ä nglich! Das konnten die doch nicht machen! Ich war gerade
mal 20 Jahre alt!
Ich sa ß da wie bet ä ubt. Ich war auf
acht, zehn, vielleicht sogar 15 Jahre vorbereitet gewesen, aber niemals auf
Lebensl ä nglich.
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