Das Habitat: Roman (German Edition)
schossen. Er begann die entsetzlichsten Dinge zu schildern, die man dort den Kindern antat. Zum Teil wohl eigene Erfahrungen, wie ich vermutete, zum weitaus größten Teil aber sicherlich reine Erfindung.
Nun erst begriff ich. Die Leute hier hielten uns hier für eine Gruppe Jugendlicher, die aus dem Waisenhaus in Ennis ausgebüchst war.
Alles Flehen und Betteln Ryans jedoch hatte, wie zu erwarten gewesen war, nichts weiter bewirkt, als dass Mrs. Henderson ihn liebevoll an sich drückte und eine eindringliche Rede hielt, über Mitgefühl, aber auch über Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Gemeinschaft, unter dem liebenden Dach der Unverderbten Wahrheit.
So befanden wir uns also bereits gegen Mittag des folgenden Tages, versehen mit ein paar ansehnlichen Lunchpaketen, einem neuen Hemd für Ryan und ein Paar neuer Strümpfe für Eileen, sowie vielen guten Ratschlägen und Lebensweisheiten, auf dem Weg nach Ennis.
Der Regen fiel in schweren Tropfen hernieder, als wir die Stadt schließlich erreichten. Längst war meine Decke durchweicht und ich fror erbärmlich. Ich sah, dass es Eileen und Ryan kaum anders erging. Nur Allen schienen weder Nässe noch Kälte etwas anhaben zu können. Missmutig starrte er vor sich hin, während das Wasser in dicken Rinnsalen an ihm hinab floss.
Die ersten Häuser kamen an uns vorüber. Alles erschien Grau in Grau. Durch den dichten Regen nahm ich meine Umgebung nur wie durch einen Schleier wahr. Immer wieder rann mir Wasser in die Augen und trübte mir den Blick. Gelegentlich konnte ich schemenhaft Häuser erkennen, die sichtlich noch aus der Zeit vor dem Neubeginn stammten. Die meisten verfallen und kaum mehr als graue Ruinen. Einige wenige aber schienen auch heute noch genutzt und waren auf die neuen Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten umgebaut. Derer wurden es immer mehr, je näher wir dem heutigen Stadtzentrum kamen. Mir war aufgefallen, dass das Rumpeln der Räder deutlich nachgelassen hatte, bereits als wir die ersten Ausläufer der Stadt erreicht hatten. Ich vermutete, dass man, zumindest stellenweise, die Straßen der alten Zeit als Zufahrtsstraßen zur neuen Stadt nutzte und sie, wo immer es möglich war, wieder instand gesetzt hatte und erhielt. Jedenfalls dort wo der schwarze Stein, aus denen sie einst errichtet worden waren, nicht nur aus rissigen, löchrigen Flecken bestand, die sich ab und zu aus der Vegetation ringsumher erhoben, sowie es andernorts zumeist der Fall war. Dies mag wohl auch der Grund gewesen sein, weshalb so viele Gebäude aus dieser Zeit auf unserem Weg lagen. Diese aber wurden schnell immer weniger und schließlich wandelte sich die Umgebung in ein Stadtbild, wie es mir eher vertraut anmutete.
„Wir haben es gleich geschafft. Dann kommt ihr ins Trockene. Es ist nicht mehr weit.“, brummte Henderson, der sich abermals zu uns umgedreht hatte.
In einem Ton tat er dies, der offenbar Zuversicht ausdrücken sollte. Mir jedoch war alles andere als zuversichtlich zu Mute. Mein Magen sank mir in die Kniekehlen, und begann zu rebellieren, je näher wir unserem Ziel kamen.
Der Wagen begann nun wieder heftiger zu rumpeln. Hier im Stadtkern waren die Straßen neu angelegt worden. Mit Kopfsteinpflaster versehen; ganz wie es der heutigen Bauweise entsprach. Trotz des Wetters herrschte in den Straßen und Gassen durch die wir kamen reges Leben. Nun, zumindest nach meinem damaligen Verständnis. Ennis hatte, soweit ich vorher schon gehört hatte, weit über tausend Einwohner – das Ordinariat und die Bewohner des Umlandes noch nicht einmal mit eingerechnet. Für einen kurzen Moment schoss es mir durch den Sinn, welchen Eindruck meine Schilderungen über dieses Abenteuer wohl bei den anderen Jungs in Ballynakill machen würden. Wenn schon mein damaliger Trip nach Loughrea soviel Bewunderung hervorgerufen hatte, um wie viel beeindruckender mussten sich erst die Berichte über Ennis anhören. Ich wischte den Gedanken beiseite. Merkwürdig was einem manchmal so im Kopf herumgeht. Überdeutlich kam es mir wieder zu Bewusstsein, in welch aussichtsloser Lage ich mich befand.
Malcolm , so überkam mich der Gedanke wieder. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Immer wieder auf der langen Fahrt hierher hatte ich an ihn gedacht. Malcolm war hier. Hier in Ennis. Er war Priesterschüler, hier im Ordinariat. Ich musste irgendwie versuchen, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Wenngleich ich auch nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich das anstellen
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