Das hätt' ich vorher wissen müssen
Rollstuhl gehievt und auf die Toilette gefahren werden, warum also nicht auch in die Raucherecke?
Wider Erwarten hatte Roland sogar Verständnis dafür. »Es ist ja Ihre Lunge, die Sie ruinieren«, konstatierte er und rollte mich nach draußen. Da saßen sie alle, die Aussätzigen, die Verfemten, die Abhängigen – bandagiert, eingegipst, mit und ohne Krücken, tranken Bier, spielten Skat und waren guter Laune. Nur ein dürres Männchen hockte mit Leidensmiene auf seinem Stuhl. Kein sichtbares Zeichen in Form von Gips oder Verbänden deutete auf seine Zugehörigkeit zu dieser Station hin.
»Der ist von der Inneren«, wurde ich aufgeklärt, nachdem der Mann auf die Uhr gesehen, hastig die Zigarette ausgedrückt und das Rauchergetto verlassen hatte. »Er hat was am Magen und striktes Rauchverbot. Trotzdem kommt er immer heimlich her. Jetzt ist gleich Visite, deshalb hat er’s so eilig.«
Seitdem ich die grüngetünchten Wände des Krankenzimmers verlassen durfte, lebte ich wieder auf, und jeden Mittag kurz vor zwei ergriff ich die Flucht. Dann nämlich saß Frau Imle im frischgemachten Bett, umgeben von Nelken und »Hohem C«, und wartete auf ihre Besucher. Und die kamen! Während der ersten Tage hatte ich den Massenandrang wehrlos über mich ergehen lassen müssen, denn selbstverständlich wurde ich in das muntere Geplauder einbezogen. Mangels ausreichend vorhandener Stühle und wegen des bereits vollbesetzten Bettes von Frau Imle diente bald auch mein Bett als Sitzbank. Auf der rechten Seite unterhielten sich Onkel Erwin und Kusine Berta, auf der linken Seite hockten zwei Nichten und diskutierten über das mögliche Vergnügungsprogramm.
»Kommsch obends mit in de Disco?«
»Nä, ich will heit mal widder vor ‘em elfe ins Bett.«
»Was willsch’en so frih im Bett? Das isch doch langweilig.«
»Das merksch doch net, wenn schläfsch.«
Gegen drei Uhr war Schichtwechsel. Der erste Schwung Besucher ging, der nächste kam. Das war der mit den Thermosflaschen voll Kaffee und dem Streußelkuchen. Die Zahnputzgläser wurden requiriert, mitgebrachte Pappteller ausgepackt, Büchsenmilch herumgereicht – manchmal erinnerte mich dieser Umtrieb an die Speisung der Fünftausend. Und mitten in die kauende und kaffeeschlürfende Gesellschaft platzte jedesmal Lernschwester Karin mit ihrer Tabelle und wollte wissen, ob man heute schon Stuhlgang gehabt habe.
Kurz vor halb fünf, wenn draußen das erste Tellerklappern zu hören war, räumte der letzte Besucher das Feld. Im Verlauf des Abendessens erfuhr ich von Frau Imle, wer der Mann mit dem Hitlerbärtchen gewesen war, und daß Base Elfriede – »die mit dem lila Kleid« – schon seit zwei Jahren mit Herrn Wilhelm zusammenlebe, der mir wegen seiner roten Krawatte bestimmt aufgefallen sei.
Um halb sechs setzte noch einmal hektisches Treiben ein. Das abendliche Aufräumen begann. Während eine Schwester die Kuchenreste aus den Betten entfernte (Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieken!), schleppte eine andere die Blumenvasen auf den Flur, eine dritte verteilte Pillen, eine vierte Ermahnungen. »Das geht aber nun wirklich nicht, Frau Sanders, daß Sie die Bücher immer auf den Boden legen! Wie soll denn da die Putzfrau saubermachen?«
Die kam ohnehin erst am nächsten Vormittag, fuhr einmal mit dem Lappen durch das Zimmer, schob den Staub aus der vorderen Ecke in die hintere, wobei sie abgestellte Rollstühle, Krücken und ähnliche Hindernisse weitläufig umrundete, und verschwand mit einem fröhlichen »Bis morgen also« ins nächste Zimmer.
Frau Imle saß schon wieder in Warteposition. Die Abendstunden waren der allernächsten Verwandtschaft vorbehalten. Die Söhne hatten ihren Achtstundentag beendet, die Enkel die Hausaufgaben, die Allerkleinsten den Nachmittagsschlaf. Mit Kinderwagen und Quietschpüppchen fielen sie ein. Oma wurde abgeküßt, ich wurde nicht vergessen (»Gib mal der Tante das schöne Händchen!«), saubere Nachthemden wurden abgeladen (»Ich hab dir auch noch drei Unterhosen mitgebracht, war doch richtig?«), Handtücher ausgewechselt, Weintrauben gewaschen. »Die schickt dir Frau Rothenhöfer mit vielen Grüßen, und die Orangen sind von Frau Kremser!« Frau Kremser hatte nicht ahnen können, daß Frau Imle bereits über einen genügenden Vorrat verfügte und die Apfelsinenpyramide täglich höher wurde.
Gegen zwanzig Uhr begann die Nachtruhe. Sie machte sich dadurch bemerkbar, daß überall die Fernseher eingeschaltet
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