Das hätt' ich vorher wissen müssen
zwanzig Takte…
»Würden Sie bitte Ihr Armband ablegen? Wenn Sie damit versehentlich ans Mikrofon stoßen, hört sich das draußen an, als ob ein Geschirrschrank umkippt.«
Nervös fummelte ich am Verschluß, und mit dem letzten Ton der Musik fiel es klirrend auf den Tisch.
Herr Scholz räusperte sich kurz, drückte auf eine Taste. »Auch heute haben wir wieder einen Gast bei uns im Studio…«
Nach zehn Minuten war alles vorbei. Das Interview unterschied sich vom gestrigen nur insofern, als ich etwas weniger »Äh« gesagt und dafür etwas mehr gestottert hatte, obwohl ich die immer gleichbleibenden Fragen mittlerweile rückwärts konnte.
Vor dem Glaskasten erwarteten mich ein Glas Orangensaft sowie ein Telefonhörer. Eine Frau Kern von der RIAS-Illustrierten hätte mich gern für eine zwanglose Unterhaltung, und ob ich nicht noch etwas Zeit hätte. Man werde das Gespräch zwar erst im Juni ausstrahlen, aber da ich doch gerade im Hause wäre…
Frau Kern residierte ein Stockwerk tiefer, war lieb und nett, aber andere Fragen als die üblichen stellte sie auch nicht. So käute ich zum ichweißnichtmehrwievielten Mal wieder, was mich zum Schreiben gerade dieses Buches bewogen hatte und warum es legitim sei, Heiteres über eine doch gar nicht heitere Zeit zu erzählen. Dann mußte ich noch zwei Seiten vorlesen – diesmal waren es andere und ausgerechnet die mit dem Druckfehler, den ich erst wieder zu spät bemerkte –, und endlich war auch das überstanden. Als ich mich gerade verabschieden wollte, wurde ein Anruf durchgestellt. »Eine Hörerin möchte Sie gern sprechen. Nehmen Sie an?«
Was blieb mir übrig? »Guten Tag, hier ist Evelyn Sanders.« Na also, langsam gewöhnte ich mich an den Namen.
»Evelynchen, bist du’s wirklich?« Irgendwie kam mir die Stimme bekannt vor, ich konnte sie nur nicht sofort unterbringen. »Ich hab eben die Sendung gehört und bin völlig von den Socken. Das hat ja niemand hier gewußt!«
Offenbar kannte mich die Dame recht gut, sonst hätte sie mich nicht geduzt. »Entschuldigung, aber ich weiß im Moment wirklich nicht, mit wem ich spreche.«
»Brüning, Riemeisterstraße. Erinnerst du dich nicht mehr?«
Du liebe Zeit, natürlich! Sie hatte im Nebenhaus gewohnt, damals zusammen mit meiner Mutter Lebensmittel für alle Hausbewohner organisiert, und von ihrem Sohn Maugi hatte ich die fürchterlichste Dresche meines Lebens bezogen.
»Sag einmal, Evelynchen« – sie mußte wohl noch den propellergeschmückten Kindskopf in Erinnerung haben –, »bleibst du länger in Berlin?«
»Nur bis übermorgen.«
»Willst du mich nicht einmal besuchen? Ich lebe immer noch in der alten Wohnung.«
Bloß das nicht! Die Riemeisterstraße war der letzte Ort, an den es mich jetzt ziehen würde. Vielleicht hatten noch mehr Nachbarn das Interview gehört, mein Foto prangte in einigen Zeitungen, und auf Konfrontationen mit ehemaligen Mitbewohnern, die in meinem Buch weniger glimpflich davongekommen waren als Frau Brüning, legte ich nicht den geringsten Wert. Tomaten waren im Moment preiswert.
»Kann ich heute abend zurückrufen? Im Augenblick stehe ich nämlich auf dem Schlauch.« Das stimmte zwar nicht, genaugenommen war ich ab jetzt ein freier Mensch, aber das brauchte sie ja nicht zu wissen.
»Tu das, Evelynchen, ab sieben bin ich zu Hause.«
Und ich mit Vati beim Chinesen, dachte ich vergnügt, während ich den Hörer auflegte. Nun aber nichts wie weg hier, bevor sich eventuell noch weitere Hörer an die Strippe hängen. Ich hatte genug von der Fragerei, genug von den »Pellkartoffeln«, wollte wieder ich selbst sein und nicht Frau Sanders, die ja doch nur eine Rolle spielte und ihren Part leider sehr mangelhaft beherrschte.
Als Vati mich am Spätnachmittag vom Hotel abholte, grinste er zur Begrüßung. »Alle Achtung, du hast dich ganz wacker geschlagen. Seit heute bis du zur lokalen Berühmtheit aufgestiegen.«
»Zum Glück wohne ich sechshundert Kilometer weit weg. Das alles kratzt mich wenig, solange die zu Hause nichts erfahren.« Ich stutzte. »Woher weißt du überhaupt davon? Du hast doch sonst so einen Horror vor Hausfrauensendungen?«
»Man hat so seine Beziehungen! Wenn du das nächste Mal Frau Schöninger siehst, dann bestell ihr einen Gruß von mir.« Bevor er den Wagen startete, holte er ein Päckchen aus dem Handschuhfach. »Hier, kleines Souvenir.«
»Was is’n drin?« Neugierig wickelte ich das Papier ab. Zum Vorschein kam eine Tonbandkassette, und darauf stand
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