Das Hagebutten-Mädchen
ersten Zeugen vernehmen könnte.«
»Ach ja«, fiel es Wencke wieder ein, sie sah sich um und da entdeckte sie den Mann der dicken Borkumerin, den mit der fleischfarbenen Jacke. Er saß stumm an der Tür des vorletzten Planwagens. Vorhin, auf dem Schiff, da hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihm etwas auf den Lippen gelegen hatte. Dass er sich ein kurzes Gespräch mit ihr gewünscht hätte, eines ohne die Zwischenbemerkungen seiner drallen Gattin. Und er war Antiquitätenhändler. »Bleiben Sie ruhig auf Ihrem neuen Arbeitsplatz, Sanders, ich bin gleich wieder da.«
Samstag, 20. März, 16.34 Uhr
S ag mal, spinnst du? Wie kommst du dazu, der Polizei von dem Akkordeon zu erzählen? Ich dachte, ich könnte dir vertrauen!«
Astrids Beine waren weich wie rote Grütze, auch wenn ihr Bruder sie inzwischen losgelassen hatte und sie am Küchentisch saßen. Er war wütend, unglaublich wütend, und sie konnte sich keinen Reim darauf machen, weshalb.
»Warum meinst du denn, habe ich dir das Instrument mitgegeben? Damit du bei der Kommissarin antanzt und sie mit der Nase auf Kais Antiquitätengeschäfte stößt?«
»Ich war nicht bei der Polizei! Wirklich, ich habe diese Kommissarin nur einmal getroffen, und das war in deiner Wohnung, als sie dich vernommen haben. Und da hattest du mich gebeten, zu bleiben. Wie kommst du darauf, dass ich dich verraten habe, ich weiß ja noch nicht einmal, was es mit diesem Akkordeon auf sich hat!«
»Diese Tydmers hat aber sämtliche Verbindungen zum Festland einstellen lassen, weil ihr irgendjemand erzählt hatte, Kai sei wegen einer geschäftlichen Sache unter Druck gesetzt worden. Sie hat vor einer guten Stunde bei mir angerufen und mich gebeten, die Fähre nicht fahren zu lassen, damit sie alle Verdächtigen auf der Insel festhalten kann. Und sie hat von Antiquitäten gesprochen, Astrid. Von wertvollen Antiquitäten oder so etwas in der Art, das waren ihre Worte. Wie sollte sie sonst darauf kommen, Astrid, ich finde, es klingt verdammt danach, dass du geplaudert hast. Und jetzt hänge ich ganz dick drin! Sicher finden die beiden es merkwürdig, dass ich ihnen nichts von diesen Dingen erzählt habe, und zack stehe ich auf der Verdächtigtenliste!«
»Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe meinen Mund gehalten, obwohl mir nicht ganz wohl ist bei der Sache. Ich habe das Ding zu meinem Haus geschleppt, ohne dass es einem Menschen aufgefallen wäre. Bin extra Umwege gelaufen, ganz hinten am Deich entlang. Der Einzige, der eventuell etwas von dem Akkordeon mitbekommen haben könnte, ist Gerrit, aber der ist, glaube ich, viel zu betrunken, um zu verstehen…«
»Ach, Gerrit, der hat doch ganz andere Sorgen«, unterbrach Henner.
Astrid sah ihn erstaunt an. Es war das erste Mal, dass sie ausgesprochen wurde, diese Verdächtigung, die sie schon seit so langer Zeit heimlich quälte. Gerrit und Henner waren vertraut miteinander, ihr Bruder kannte sich mit den Problemen ihres Mannes aus, vielleicht tröstete er ihn sogar ab und zu…
Astrid dachte an die Umarmung in ihrem Bett und sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr übel wurde.
»Und du hast nichts bei der Polizei ausgeplaudert?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Himmelherrgott, weiß ich doch nicht! Du bist ja nicht blöd und machst dir deine Gedanken, was es mit diesem Akkordeon auf sich hat und was die Sache mit Kais Tod zu tun haben könnte.« Er blickte ihr direkt in die Augen.
»Und außerdem steht die Sache von damals noch immer zwischen uns, und du hasst mich und Kai, weil wir schwul sind. Da kannst du mich noch so lieb anlächeln, Astrid, ich ahne doch, was in dir vorgeht. Frag mich doch endlich nach diesem Akkordeon, Astrid, frag mich doch endlich!« Doch sie tat es nicht. Die Übelkeit stieg weiter in ihrem Hals hoch und machte ihr das Reden unmöglich. Es war so widerlich. Meine Güte, er hatte ja Recht, sie hasste ihn noch immer, ihn und Kai und alle anderen, von denen sie hintergangen wurde. Warum auch nicht? Hatte sie nicht allen Grund dazu?
Sodbrennen. Ihr Körper rebellierte gegen Henners Worte und am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte schon wieder geduscht, hätte sich erneut stundenlang eingeseift und mit heißem Wasser abgewaschen. Stattdessen erhob sie sich, drehte den Hahn über der Spüle auf und beugte sich herunter, um zu trinken. Wenn sie nur diesen galligen Geschmack aus dem Mund bekommen würde.
»Jetzt sagst du wieder nichts. Du bist eine feige Kuh, Astrid. Warst du schon immer. Bist immer
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