Das Hagebutten-Mädchen
Angewohnheit, Kochrezepte aus der Fernsehzeitung auszuschneiden. Dass sie sich ausgerechnet mit der Frau ihres Geliebten traf, resultierte aus einer absurden Mischung aus Sehnsucht und Masochismus. Sehnsucht nach Gerrit, nach jedem Teil von ihm, nach seiner Nähe, und dem selbst quälenden Drang, diese Sehnsucht ausgerechnet bei seiner Familie zu stillen, wo Hochzeitsfotos auf dem Wohnzimmerschrank standen und seine Hausschuhe im Flur. Nicht nur einmal hatte sie sich vorgenommen, diese Besuche einzustellen, diese Treffen für immer abzusagen. Doch Astrid wollte ständig was von ihr, rief dauernd an, um sie zum Tee einzuladen. Zum Klönen, sagte sie dann immer. Astrid Kreuzfeldt war die einzige Frau auf ganz Juist, von der sie überhaupt zum Tee eingeladen wurde. Seike wusste, dass sie bei den anderen Hausmütterchen nur ungern gesehen wurde. Ihr Ruf war schlecht, sie war bei der restlichen weiblichen Inselbevölkerung eine Persona non grata als unverheiratete Frau, die sich trotz Kind mitten ins Leben stürzte und ihre Weiblichkeit nicht nur in der Mutterrolle auslebte. Es lagen Welten zwischen Astrid und ihr, und es war eigentlich nett von Astrid, dass sie sich mit ihr abgab. Nett und naiv. Manchmal wartete Gerrit schon bei ihr zu Hause, während sie noch mit Astrid über die Kinder plauderte.
Hätte Astrid das Telefongespräch nicht so kurzerhand abgebrochen, dann wäre es zur Sache gekommen, dann hätte sie ihr auch von der Schwangerschaft erzählt und wie lächerlich Astrids Eheprobleme dagegen aussahen. Während Astrid darüber jammerte, wie groß doch ihr Haus war und wie viel sie immer zu putzen hatte, plagten sie ganz andere Sorgen: Mit zwei Kindern konnte sie auf ihren bisherigen vierzig Quadratmetern beim besten Willen nicht mehr leben und sie musste zum Sommer eines der Gästezimmer für ihren privaten Gebrauch umfunktionieren, was wiederum eine erhebliche Abnahme ihres Einkommens nach sich ziehen würde und, ach, man konnte es drehen und wenden, dieses Baby würde alles auf den Kopf stellen. Viel mehr noch, als Paul es damals getan hatte.
Seike zog sich die Winterjacke über und steckte ihren Jungen in den warmen Overall. Vielleicht verzogen sich ihre Zukunftssorgen, wenn sie unter Leute ging. Die anderen waren sicher schon auf dem Weg zur Domäne Bill. Mit Paul auf dem Kindersitz könnte sie die Kutschen sicher einholen und ein wenig frische Luft war ohnehin gut in ihrem Zustand. Sie hoffte nur, dass ihr die Erbsensuppe keine Übelkeit bereiten würde. Nichts gegen den selbst gemachten Eintopf aus der Küche des Billbauern. Er schmeckte würzig und frisch und war wirklich eine Spezialität. Doch der Geruch von Hülsenfrüchten hatte ihr in der ersten Schwangerschaft schon einen wahnsinnigen Brechreiz beschert. Und sie wollte nicht, dass irgendjemandem auffiel, dass etwas anders war als sonst. Wenn dieser unangenehme Bonnhofen nicht sowieso schon das eine oder andere Wort über diesen dämlichen Schwangerschaftstest auf ihrem Küchenstuhl verloren hatte. Es war besser, wenn vorerst niemand etwas von diesem Baby wusste.
Nicht, bevor sich auf Juist alles wieder ein wenig beruhigt hatte. Und wenn er endlich wieder Zeit für sie hatte, wollte sie erst dem Menschen davon berichten, der es eigentlich als Erster erfahren sollte.
Seike trat vor die Tür, schloss hinter sich zu und ging dann zu ihrem Fahrrad. Paul schien schon halb zu schlafen. Wenn er gleich vom holperigen Straßenpflaster durchgerüttelt wurde, dann würden ihm die Augen bleischwer zufallen und sie hätte ein wenig Ruhe, über alles nachzudenken.
Ob er sich freut, dass er Vater wird? Ob er bei ihr bleiben würde?
Ob er wohl heute Nachmittag auch an der Bill war?
Samstag, 20. März, 17.26 Uhr
D er blasse Mann aus Borkum hieß Uwe Redlefsen. Er hatte zwei Antiquitätenläden, einen in Emden und einen auf der Insel, sah selbst ein wenig aus wie eine Antiquität und schien ein enormes Fachwissen über altes Porzellan und Teekannen zu haben. Und er sagte in beinahe jedem Satz »quasi«.
Er habe quasi jede Woche mindestens einmal mit Minnert telefoniert. Sein Kollege von der Nachbarinsel sei quasi der beste Fachmann an der norddeutschen Küste gewesen, wenn es um alte Instrumente ging. Begegnet sei er Minnert aber erst in diesen Tagen hier auf Juist, er sei quasi nur aus dem Grund mit seiner Frau mitgereist, dass Minnert von einem ganz besonderen Schmuckstück gesprochen hatte, welches er sich unbedingt einmal anschauen sollte. Und dann
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