Das Hagebutten-Mädchen
Händen und rannten in die Richtung, in der sie ihre sicheren Häuser vermuteten. Schneller, um Himmels willen, wo kam nur das ganze Wasser her? Es war bitterkalt und der Sturm wehte sie von links nach rechts, ließ ihnen keine Möglichkeit zum Durchatmen, hetzte sie wie Beutetiere über das überflutete Stück Insel.
Doch als dann das Verderben kam, erkannte man es nicht sofort. Die graue Wand hob sich fast gar nicht vom düsteren Himmel über dem Meer ab, sie tarnte sich, pirschte sich heran. Und die Menschen bemerkten sie zu spät. Es blieben nur ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass dies nun das Ende war.
Die Welle erhob sich höher als das größte Haus auf Juist. Ohne Vorwarnung stand sie wie eine Mauer vor den Heimkehrenden. Und rollte über sie hinweg. Was sind schon achtundzwanzig Menschen? Sie durchbrach den festen Griff, mit dem der Vater seinen Jüngsten hatte sicher halten wollen, sie trennte das verliebte Paar, das sich noch einen kurzen, endgültigen Blick zuwerfen konnte, bevor jeder für sich ganz einsam und mit voller Gewalt gegen die Dünen der Insel gespült wurde, immer und immer wieder. Und als die Welle die Insel Juist hinter sich gelassen hatte, da stand nichts mehr im kleinen Dorf an der Bill. Die Kirche, die Häuser, das Vieh. Alles, was übrig blieb, waren Leichen und die Umrisse der Grundmauern. Nur das Dorf im Loog, es hatte keinen Schaden genommen. Jeder Stein stand noch auf dem anderen und in den Stuben warteten die Kaminfeuer darauf, dass die Familien endlich heimkamen, um Weihnachten zu feiern.
Wencke klappte das Heft zusammen und gab es dem merkwürdig stillen Mann zurück. Er hatte sie die ganze Zeit beim Lesen beobachtet und sich mehrere klare Schnäpse aus einer mitgebrachten Flasche eingeschenkt.
»Es ist schaurig!«, bestätigte sie.
Er fasste sich ans Ohr und knibbelte daran herum. Ein Hörgerät steckte tief in seiner Ohrmuschel. Gerold Dontjeer war fast taub, als Kind schon hatte er Schwierigkeiten gehabt, alles mitzubekommen, und seit er zwanzig war, trug er eine Hörhilfe. So viel hatte er Wencke bereits erzählt, nachdem sie ihn kennen gelernt und die ersten beiden Gläschen selbst gebrannten Hagebuttenschnapses mit ihm getrunken hatte. Ohne die Knöpfe verstünde er kein Wort, und wenn es ihm ringsherum zu laut würde, dann freue er sich über seine Behinderung und stelle die Dinger einfach aus, um seine Ruhe zu haben. Er wäre gern mit sich allein, deswegen liebe er guten Schnaps und Bücher, sagte er vergnügt. Er sei nun fast fünfundfünfzig und habe in seinem Leben sicher schon hundert Liter Selbstgebrannten getrunken und mehr als zweitausend Wälzer gelesen. Sein Beruf als Bibliothekar und Antiquitätenhändler auf Wangerooge sei die Erfüllung seines Lebens. Und das Schreiben von Theaterstücken und kleinen Novellen wie dieser hier, die er, altmodisch und liebevoll mit Schreibmaschine auf ein dünnes Blatt getippt, zu einem Heft zusammengebunden hatte.
»Glauben Sie mir, ich habe die Sache mit meinem Kollegen gar nicht mitgekriegt. Ehrlich gesagt habe ich hier auf Juist die meiste Zeit mein Hörgerät ausgeschaltet, weil mir die schmutzigen Witze auf den Geist gehen. Ich habe mich nur gewundert, warum alle zum Hafen gingen, und als ich nachfragte, sagte man mir, das Fest sei abgebrochen worden. Wieso und warum hat mir keiner erklärt, ich höre ja auch wirklich nicht immer hin, das muss ich zugeben. Und viele meiner Theaterleute haben sich schon daran gewöhnt, mich gar nicht richtig wahrzunehmen, was mir auch ganz lieb ist. Und jetzt erzählen Sie mir, dass Kai Minnert tot in seinem Laden gefunden wurde. Und dass Sie sich gerade für die Zeit interessieren, in der ich mich mit ihm getroffen habe. Das war allerdings in seiner Wohnung und nicht im Laden.« Nervös drehte er das Heft in seinen Händen. »Nun verdächtigen Sie mich vielleicht. Weil ich nichts von unserem Treffen gesagt habe und weil ich mich so für friesische Literatur und Geschichte interessiere.« Dann erst blickte Gerold Dontjeer durch das lange Haar, das ihm wirr ins Gesicht fiel. Die buschigen Augenbrauen zogen sich über der breiten Nase zusammen und die schmalen Lippen zuckten ein wenig. Er sah älter aus als fünfundfünfzig.
»Wir haben keinen konkreten Verdacht«, gab Wencke zurück. »Vielleicht ein paar vage Ideen, aber mehr auch nicht. Zudem wurde Minnert erst eine Stunde später im Schaufenster eingesperrt, und da waren Sie doch sicher bereits wieder auf dem Fest, oder
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